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Artikelserie Tschernobyl: Strahlenbelastung von Millionen Menschen

Nach den Explosionen im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl konzentrierten sich die Einsatzkräfte auf die Bekämpfung der entstandenen Brände in der Anlage. Dabei galt es vor allem zu verhindern, dass sich das Feuer auf benachbarte Anlagen ausbreitete. Bei dieser Arbeit wurden die Einsatzkräfte starker Strahlung ausgesetzt.

Bild: Die Einsatzkräfte bekamen sehr hohe Strahlendosen in Tschernobyl ab (Quelle: chnpp.gov.ua)

Eine weitere Konsequenz der Katastrophe liegt bei einer erhöhten Strahlenbelastung von Millionen Menschen.

In Tschernobyl wurden zur unmittelbaren Bekämpfung des Brandes und zur Abdeckung des offenen Reaktorkerns das Betriebspersonal des Reaktors, Feuerwehrleute sowie Armeeangehörige, darunter vor allem Helikopterpiloten, eingesetzt. Dieser Personenkreis erhielt zum Teil sehr hohe Strahlendosen.

Für die Dekontaminations- und Aufräumarbeiten in der Region des Unfallreaktors Tschernobyl kamen Armeeangehörige und Zivilisten aus vielen Teilen der Sowjetunion zum Einsatz. Die Anzahl dieser nur schwer erfassbaren Personengruppe, oft als “Liquidatoren” bezeichnet, betrug nach sowjetischen Angaben etwa 600‘000 Personen.

Trotz Evakuierungsmassnahmen waren zudem ungefähr 135‘000 Personen, die innerhalb der evakuierten Zone bis 30 km Radius vom Kernkraftwerk lebten, vom 26. April bis zum 5.Mai 1986 einer deutlich erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt.

Diskussion über die Anzahl der Opfer

Die United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) veröffentlichte 2000 einen Bericht über die Folgen der Reaktorkatastrophe. Etwa 300 Personen wurden in Spitäler gebracht. 134 Personen zeigten Symptome einer akuten Strahlenkrankheit mit Erbrechen und Schwindel sowie Hautverbrennungen. Trotz intensiver medizinischer Bemühungen starben 28 Personen innerhalb der ersten vier Monate nach dem Unfall an der Strahlenkrankheit und den erlittenen Brandverletzungen. Bis 1998 erhöhte sich die Zahl der Opfer aufgrund der erhaltenen Dosis um weitere 11 Personen.

Internationale Umweltorganisationen bestreiten die offiziellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation und weisen auf die noch zu berücksichtigenden Krebsfälle hin. In einem 2006 publizierten Bericht sprach Greenpeace von zusätzlichen 200‘000 Toten zwischen 1990 und 2004 in Weissrussland, der Ukraine und Russland infolge des Unfalls.

In der Schweiz veröffentlichte das Paul Scherrer Institut PSI 1998 einen Bericht über schwere Unfälle im Energiebereich, in dem es die Zahlen für möglicherweise später auftretende Todesfälle im Zusammenhang mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl aufgrund von Studien der EU, IAEA und WHO (1996) und UNSCEAR (1993) unter Berücksichtigung von russischen Quellen analysierte. Gemäss Resultate dieses Berichts beträgt das Intervall 9’000 bis 33’000 Todesfälle.

Eine der Schlussfolgerungen aus dem Bericht des Chernobyl Forums ist, dass aufgrund der Strahlenbelastung durch den Unfall bis zu 4000 Menschen gestorben sein könnten. Bis Mitte 2005 sind gemäss Bericht etwa 50 Todesfälle registriert worden, die in direktem Zusammenhang mit dem Unfall stehen. Der Unterschied rührt daher, dass es bei einem Unfall auch allfällig später auftretende Auswirkungen gibt.

Erhöhtes Krebsrisiko für die umliegende Bevölkerung

Gemäss WHO konnte keine Erhöhung der Sterberate der Bevölkerung in den kontaminierten Gebieten als Folge einer erhöhten Strahlenexposition nach dem Unfall von Tschernobyl nachgewiesen werden. Bei Kindern wurde laut WHO jedoch eine deutliche Zunahme an Schilddrüsenkrebs beobachtet, die auf erhöhte Strahlung zurückzuführen ist.

Die Studie „Krebs in der Schweiz“ unterstrich, dass die Bevölkerung in Weissrussland nach der Katastrophe ein erhöhtes Risiko hat, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Je jünger die Personen während der Strahlenexposition sind, desto höher ist das Erkrankungsrisiko. Andere Studien zu den Auswirkungen der in Tschernobyl entstandenen radioaktiven Wolke auf die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen in Europa zeigen, dass die Auswirkungen eher begrenzt sind.

Glück im Unglück

Für die unmittelbare Region um das Kernkraftwerk Tschernobyl hätte es noch schlimmer werden können. an einer Tagung 2006 erwähnte gemäss Neuer Zürcher Zeitung der ehemalige Direktor der Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen HSK und anerkannte Tschernobyl-Experte Serge Prêtre, dass die Windverhältnisse und die Grosswetterlage in den kritischen Tagen nach dem Unfall dazu führten, dass  radioaktive Ablagerungen eher weiter weg als in der Nähe des Unfallortes stattfanden. Gemäss seinen Aussagen hätte es sonst in der Stadt Pripjat, die unmittelbar neben dem Kernkraftwerk liegt, mehrere tausend Tote gegeben.

Das ist der zweite von sechzehn Teilen zur Geschichte des Unfalls Tschernobyl.

Dieser Text wurde am 12. Februar 2016 aktualisiert.

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