Alle Schweizer Bundesbehörden

Artikel, Hintergrundartikel, Interviews, Kommentare

«Die Schweiz gilt in Nuklearfragen als äusserst zuverlässig» – Kommentar von alt Bundesrätin Doris Leuthard

Als sich der folgenschwere Unfall in Fukushima ereignete, war sie die Vorsteherin des UVEK: Doris Leuthard. Anlässlich des zehnten Jahrestages der nuklearen Katastrophe erklärt sie, warum es unerlässlich war, die nukleare Sicherheit nach dem Unfall politisch zu begleiten, welche Rolle dem ENSI zukam und wie sich die Schweiz international positioniert hat.

Bild: Alt Bundesrätin Doris Leuthard erklärt am ENSI-Forum 2012 die Konsequenzen der Energiestrategie 2050.

Das Ereignis im Kernkraftwerk Daiichi bei Fukushima hatte, obwohl weit weg, gravierende Folgen für die Schweiz und die Schweizer Energiepolitik. Einerseits war über die seit Jahren vorliegenden drei Gesuche um eine Rahmenbewilligung für den Bau eines neuen Kernkraftwerkes und damit über die künftige Schweizer Energiepolitik zu entscheiden. Anderseits ging es um die Sicherheit unserer Kernkraftwerke im Lichte der Ereignisse in Fukushima. Schliesslich wurden Sicherheitsstandards und die Prozesse hinterfragt.

Das Ereignis in Fukushima fand in einer Zeit statt, in der sich die Politik intensiv mit der Energieversorgung unseres Landes beschäftigte. Angesichts des Alters der fünf Kernkraftwerke (KKW) stellte sich die Frage, ob die drei ältesten durch eines der neueren Generation ersetzt werden sollte. Es lief eine breite Debatte. Gewisse Kantone plädierten für Volksbefragungen bzw. Abstimmungen. Durch die Katastrophe in Fukushima wurde dieser Prozess gestoppt. Gleichzeitig öffnete sich ein «window of opportunity» für eine Strategieänderung der Energiepolitik hin zu einer diversifizierten, nachhaltigen Energieversorgung.

Kurzfristig ging es darum zu beurteilen, ob die Katastrophe Auswirkungen auf Europa beziehungsweise auf die Schweiz haben könnte. Die Beurteilung der Sicherheitslage, tägliche Information nach innen wie auch nach extern für die Bevölkerung und das Prüfen von Massnahmen waren zentral. Man hatte ja vom Unfall in Tschernobyl gelernt. Das ENSI machte das gut. Um die Komplexität der Materie auch für Laien verständlich zu machen, wurde extra ein Kommunikationsprofi zur Unterstützung beigezogen. Weil wir gerade in einer wichtigen Diskussion standen, wurde der Unfall schnell politisch begleitet. Aufklärung und Transparenz standen deshalb im Vordergrund.

«Die primären Untersuchungen über die Sicherheitslage der KKW gehört zum Auftrag des ENSI. Ausserdem wurden eine Zweit- und Drittmeinung eingeholt; eine klare Prüfung, dass unsere Aufsicht funktioniert.»

Alt Bundesrätin Doris Leuthard 2012 im Gespräch mit dem damaligen ENSI-Direktor Hans Wanner.

Der Bundesrat wie auch das Parlament gaben den Auftrag, die Sicherheitslage unserer KKW im Lichte des Unfalls und seiner Erkenntnisse genau anzuschauen. Das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) als zuständiges Departement beauftragte die Fachstellen im Bundesamt für Energie (BFE) in Zusammenarbeit mit der Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) und weiteren. Die primären Untersuchungen über die Sicherheitslage der KKW gehört zum Auftrag des ENSI. Ausserdem wurden eine Zweit- und Drittmeinung eingeholt; eine klare Prüfung, dass unsere Aufsicht funktioniert. Das war mir wichtig, weil die Schweiz in Nuklearfragen als äusserst zuverlässig gilt, auf höchstem Niveau der Sicherheit verpflichtet. Nachdem sich im Hinblick auf Japan gewisse Fragen stellten und die dortigen Probleme einer Überraschung gleichkamen, war die Reputation der Schweiz im internationalen Umfeld enorm wichtig. Diese war zentral, um das bisherige Vertrauen der Bevölkerung in die KKW und deren Sicherheit als berechtigt zu bestätigen. Bis auf wenige Korrekturen wurden denn auch die Organisation der Aufsicht, deren Expertise und die Unabhängigkeit bestätigt.

«Das ENSI, mit seinen Beziehungen und seinem fachlich hervorragenden Ruf, hatte und fand Gehör bei der IAEA. Das war und ist für die Schweiz wichtig.»

Darüber hinaus war es dringend notwendig zu verstehen, was in Japan falsch gelaufen war, was hätte verhindert werden können und was daraus zu lernen ist. Wir nahmen Einfluss im Rahmen der Internationalen  Atomenergie-Organisation (International Atomic Energy Agency IAEA) in Wien. Das ENSI, mit seinen Beziehungen und seinem fachlich hervorragenden Ruf, hatte und fand Gehör bei der IAEA. Das war und ist für die Schweiz von grosser Bedeutung. Bei den Prüfungen der Sicherheitslage sind zwar primär die Anlagenbetreiber in der Pflicht. Aber weil ein Unglück so verheerende Folgen für das ganze Land und seine Bevölkerung haben kann, ist die nationale unabhängige Aufsicht durch das ENSI umso zentraler. Der Austausch unter den verschiedenen Aufsichtsbehörden ist wichtig. Deshalb haben wir uns auch für mehr Transparenz bei den jeweiligen Prüfberichten eingesetzt.

«Gerade weil ein Unglück so verheerende Folgen für das Land und seine Bevölkerung haben kann, ist eine nationale unabhängige Aufsicht umso zentraler.»

Aus dem Parlament kamen viele Vorstösse zur Sicherheitslage: Halten wir uns an die Vorgaben der IAEA oder haben wir höhere Standards? Sind unsere KKW gegen einen Flugzeugabsturz sicher genug? Haben wir Einfluss auf die angrenzenden, ausländischen KKW; etwa auf das Werk in Fessenheim (Frankreich)? Wie regelmässig wird geprüft? Wie lange hat ein Betreiber Zeit für die Umsetzung der festgelegten Massnahmen? Viele Fragen, die nur mit Expertenwissen beantwortet werden können. Trotzdem darf und soll sich die Politik einmischen. Fragen zu den Sicherheitsstandards müssen klar beantwortet werden können. Prozesse der Überprüfung müssen transparent sein. Der Schutz der Bevölkerung muss jederzeit gewährleistet sein. Insofern sind der Druck und die Einflussnahme durch die Politik richtig und legitim. Standards setzen müssen hingegen Experten nach wissenschaftlichen Kriterien.

«Der Druck und die Einflussnahme durch die Politik sind richtig und legitim. Standards setzen müssen hingegen Experten nach wissenschaftlichen Kriterien.»

Ich denke, dass die Sicherheitslage und deren fachmännische, regelmässige Überprüfung schlussendlich dazu geführt haben, dass man zwar aus der heutigen Technologie der Kernkraft aussteigt und somit kein neues KKW bauen will, dass man aber die bestehenden nicht per sofort oder per bestimmtem Datum abschaltet, sondern eben laufen lässt, solange diese die hohen Sicherheitsstandards erfüllen. Die Politik hat einen vernünftigen Weg gefunden, sie vertraut auf die hohen Standards, deren stetige Beachtung seitens der Betreiber und deren kritischen Überprüfung durch das ENSI als unabhängige Aufsichtsbehörde des Bundes. Auch die Rolle der KNS wurde gegenüber Bundesrat und Departement aufgewertet.

Doris Leuthard
Bundesrätin (2006–2018) und Vorsteherin des Departementes für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (2011–2018)

Themen