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Die Gefahr bei einem 10’000-jährlichen Störfall eines Schweizer Kernkraftwerks wird überschätzt

Der Grenzwert für einen Störfall in einem Schweizer Kernkraftwerk aufgrund eines Ereignisses, das statistisch einmal in 10’000 Jahren zu erwarten ist, beträgt 100 Millisievert. Tatsächlich ist die Strahlendosis, der die betroffene Bevölkerung bei einem solchen Störfall ausgesetzt wäre, um ein Vielfaches geringer: durchschnittlich 0,3 Millisievert. Es wären keine Verletzten oder Toten zu erwarten. Eine Evakuierung wäre nicht nötig.

„Zahlen von Tausenden von zusätzlichen Krebsfällen oder gar Toten, die im Zusammenhang mit der Teilrevision der Kernenergieverordnung und dem Grenzwert von 100 Millisievert genannt wurden, sind falsch“, sagt Hans Wanner, Direktor des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats ENSI. „Sie beruhen offensichtlich auf einem Missverständnis.“

Das geltende Dosiskriterium von 100 Millisiervert (mSv) in der Strahlenschutzverordnung ist ein rein rechnerischer Wert für den Nachweis der Betreiber, dass ihr Kernkraftwerk einen Störfall („Auslegungsstörfall„) aufgrund eines Ereignisses, das statistisch einmal in 10’000 Jahren zu erwarten ist, beherrscht. Das Dosiskriterium legt Mindestanforderungen für die Auslegung eines Kernkraftwerks fest und stellt damit sicher, dass ein solcher Störfall nur geringe radiologische Auswirkungen hat.

Strenge Vorgaben für die Beherrschung des Auslegungsstörfalls

Um aufzuzeigen, dass die Bevölkerung in der Umgebung der Kernkraftwerke tatsächlich gut geschützt ist, müssen die Betreiber regelmässig – mindestens alle 10 Jahre – aufs Neue nachweisen, dass die zulässigen Grenzwerte auch in äusserst ungünstigen Fällen eingehalten werden.

Für den Nachweis gelten sehr strenge Vorgaben: Die Richtlinie ENSI-G14 verlangt, dass die Betreiber für die Berechnung der potenziellen Dosis von einer besonders strahlenempfindlichen Person (in der Regel ein Kleinkind) ausgehen, welche sich bei sehr ungünstigen Wetterverhältnissen während des Störfalls unmittelbar neben dem Kernkraftwerk (200 Meter Distanz) aufhält und das ganze folgende Jahr dort bleibt.

Die meistbetroffene Person ist ein fiktiver Worstcase

Die meistbetroffene Person („Das Kleinkind am Zaun“) ist ein fiktives, theoretisches Konstrukt, um sicherzustellen, dass die Dosiskriterien in allen denkbaren Fällen eingehalten werden. In der Realität gibt es eine solche Person aber nicht. Niemand, der sich im Moment des Störfalls zufällig direkt am Zaun des Kernkraftwerks aufhält, bleibt dort über längere Zeit. Da zudem in der Schweiz auch niemand so nahe an einem Kernkraftwerk wohnt und die Dosis mit zunehmender Distanz rasch fällt, würden selbst die Anwohnerinnen und Anwohner, die am nächsten wohnen, im tatsächlichen Fall niemals einer Strahlenbelastung von 100 mSv ausgesetzt sein.

Auslegungsstörfall in Gösgen als Beispiel durchgerechnet

Das ENSI hat auf der Basis von realen Wetterdaten im Monat Juni 2018 die potenziellen Auswirkung eines Auslegungsstörfalls, welcher zu genau 100 mSv nach Berechnung gemäss der Richtlinie ENSI-G14 führt, für das Kernkraftwerk Gösgen berechnet. Das Kernkraftwerk Gösgen wurde ausgewählt, weil die nähere Umgebung des Kernkraftwerks die dichteste Besiedelung aller schweizerischen Kernkraftwerke aufweist. Da die Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) für die Berechnung der potenziellen Opferzahl durch die Strahlenbelastung infolge eines Auslegungsstörfalls keine Empfehlung abgibt, wurde diese nach der hier beschriebenen Methode durchgeführt.

Die ungünstigste Wetterlage für einen Auslegungsstörfall mit Regen und Wind war in Gösgen der 11. Juni 2018. Für die maximale Dosis in der Umgebung hat diese Berechnung einen Wert von 13 mSv ergeben; in den Gebieten der nächsten Anwohnerinnen und Anwohner resultierten Dosiswerte von weniger als 10 mSv.

Auslegungsstörfall Gösgen hätte zu 0,3 mSv geführt

Insgesamt wären am 11. Juni 2018 rund 95’000 Leute potenziell von erhöhter Strahlenbelastung betroffen gewesen. Sie hätten im Durchschnitt eine Dosis von rund 0,3 mSv erhalten.

Die durchschnittliche Dosis von 0,3 mSv, der die Anwohnerinnen und Anwohner des Kernkraftwerks Gösgen im oben beschriebenen Falle ausgesetzt gewesen wären, entspricht lediglich einem Zwanzigstel der Strahlung (5,8 mSv), welcher eine Bewohnerin oder ein Bewohner der Schweiz aufgrund natürlicher, medizinischer und zivilisatorischer Quellen tatsächlich jedes Jahr im Mittel ausgesetzt ist.

Die zusätzlichen 0,3 mSv, welche die vom Störfall Betroffenen im Raum Gösgen erhalten würden, ist dagegen statistisch nur einmal in 10’000 Jahren zu erwarten.

Das zusätzliche Risiko für die betroffenen 95‘000 Personen in den nächsten 50 Jahren an Krebs zu erkranken, wäre minimal gewesen: Es wäre rein rechnerisch mit bis zu drei zusätzlichen Krebsfällen zu rechnen gewesen. Gemäss dem Schweizerischem Krebsbericht von 2015 ist ohne Störfall im Kernkraftwerk im gleichen Zeitraum in der betrachteten Population von rund 40‘000 Krebserkrankungen auszugehen.

Die Zahl der potenziellen zusätzlichen Krebsfälle aufgrund eines derartigen Auslegungsstörfalls ist also extrem klein im Vergleich zu den ohne Störfall zu erwartenden Krebserkrankungen.

„Unsere Berechnungen zeigen, dass die Gefahr sehr gering ist, die von einem Auslegungsstörfall in einem Kernkraftwerk ausgeht“, fasst Hans Wanner zusammen. „Unter realistischen Annahmen wird keine einzige Person einer Strahlungsdosis von 100 mSv ausgesetzt. Es wären weder Tote noch Verletzte zu erwarten. Eine Evakuierung wäre nicht nötig.“

Dieser Artikel wurde am 25. November 2020 angepasst. 

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