Bei einer ungeplanten Freisetzung von Radioaktivität kommt dem Schutz der Bevölkerung und der Lebensräume höchste Priorität zu. Dazu ist es wesentlich, die von der Radioaktivität gefährdeten Gebiete möglichst früh zu kennen. Vor Beginn einer Freisetzung von Radioaktivität (in der Vorphase) kann allerdings noch nicht auf Radioaktivitätsmessungen in der Umgebung zurückgegriffen werden. Daher muss die Gefährdung mit Hilfe von Modellrechnungen auf Grund der aktuellen Situation in der Anlage und der Wetterbedingungen abgeschätzt werden
Ausbreitungsrechnungen für Schweizer Kernanlagen
Mit Hilfe einer Ausbreitungsrechnung kann die (gemäss Art. 9 Notfallschutzverordnung dafür zuständige) Notfallorganisation des ENSI voraussagen, in welche Richtung sich eine radioaktive Wolke nach dem Austritt aus einer Kernanlage bewegt und ab wann welche Gebiete von Radioaktivität betroffen sind. Damit kann die Bevölkerung rechtzeitig alarmiert und es können vorsorgliche Schutzmassnahmen ergriffen werden. Darüber hinaus bildet eine Ausbreitungsrechnung die Basis für einen gezielten Einsatz der Messorgane und Einsatzkräfte.
Bei einem Unfall mit der Gefahr, dass Radioaktivität in gefährdendem Masse in die Umgebung austreten könnte, setzt das ENSI zur atmosphärischen Ausbreitungsrechnung das System JRODOS (Java-based Realtime Online Decision Support) ein.
JRODOS: Das System kurz erklärt
Initiiert vom deutschen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit erfolgt die Entwicklung durch das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Rahmen des EURATOM Rahmenforschungsprogrammes. Gesteuert wird die Programmentwicklung durch die RODOS User Group RUG, der Versammlung aller registrierten JRODOS-Benutzer. Sowohl durch seine Mitgliedschaft in der RUG als auch durch seinen Unterhalt- und Wartungsvertrag mit dem KIT kann das ENSI bei dieser Entwicklung direkt mitreden und die eigenen Anliegen einfliessen lassen.
Der modulare Aufbau des Systems ermöglicht die Definition von Modellketten, die aus einer Aneinanderreihung einzelner Module bestehen, welche jeweils spezifische Aufgaben erledigen. Insgesamt stehen über 25 Module zur Verfügung für Ausbreitungssimulationen, Dosisberechnungen, Modellierung der Nahrungs- und Futtermittelkette, Berechnung der Effekte von Schutzmassnahmen, etc.
Das ENSI hat aktiv die Implementation des Programmcodes LASAT (Lagrange-Simulation von Aerosol-Transport) in das Modul für Ausbreitungsrechnungen unterstützt. Dieser Programmcode wurde vom Ingenieurbüro Janicke entwickelt und berechnet die Ausbreitung von Spurenstoffen in der Atmosphäre, indem für eine Gruppe repräsentativer Stoffteilchen der Transport und die turbulente Diffusion durch einen Zufallsprozess auf dem Computer simuliert wird (Lagrange-Simulation). LASAT beruht auf einem Forschungsmodell, das 1980 entwickelt und in verschiedenen Forschungsvorhaben erprobt wurde. Seit 1990 ist es allgemein als Softwarepaket verfügbar und wird bei Landesbehörden, TÜVs und anderen Gutachtern sowie der Industrie eingesetzt. LASAT diente als Grundlage für die Entwicklung des Ausbreitungsmodells AUSTAL2000, dem offiziellen Referenzmodell der deutschen TA Luft. LASAT ist konform zur Richtlinie VDI 3945 Blatt 3 und bietet ein breites Anwendungsspektrum, unter anderem: TA Luft, Störfälle, Screening, Geruchsstoffe, Bioaerosole, Radionuklide und bewegte Quellen.
JRODOS erlaubt die direkte Verwendung von 3D-Wettervorhersagedaten aus dem von der MeteoSchweiz routinemässig eingesetzten Modell COSMO-1. Dieses liefert Prognosen in hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung bis zu 24 Stunden in die Zukunft. Bei der Verwendung dieser Wettervorhersagen werden die 3D-Daten mit einem Windfeldmodell auf die vom Ausbreitungsmodell benötigten Auflösungen heruntergerechnet, um Simulationen mit einer noch höheren räumlichen Auflösung als derjenigen von COSMO-1 zu ermöglichen.
Neben dem Windfeld ist die Auflösung der Geländeform (Orographie) eine wesentliche Grösse. Die kleinräumige Landschaftsstruktur der Schweiz und des süddeutschen Raumes stellt erhöhte Anforderungen daran, weshalb JRODOS das beste bei der Schweizerischen Landestopographie SwissTopo verfügbare Höhenmodell (DHM25) verwendet.
Das System bietet vor allem eine grosse Reichweite bei den Simulationen und Synergien mit der NAZ, Meteoschweiz und den zuständigen Behörden von Deutschland.
JRODOS ist für Berechnungen für alle Kernanlagen operationell:
Routinemässige Berechnungen mit einer Einheitsquelle (1 Bq/s) werden automatisch rund um die Uhr im Stundentakt und für drei verschiedene Freisetzungshöhen durchgeführt.
Im Ereignisfall und bei Notfall-Übungen sind störfallspezifische Berechnungen spätestens eine Stunde nach der Einsatzbereitschaft der ENSI-Notfallorganisation verfügbar.
Der Hauptzweck der Routineberechnungen ist die Sicherstellung der dauernden Verfügbarkeit des Systems und die Überwachung der aktuellen Ausbreitungssituation (Prognosen für die nächsten sechs Stunden). Zudem können Routineberechnungen im Ereignisfall für eine erste Beurteilung verwendet werden.
Der Hauptzweck der störfallspezifischen Berechnungen in der Vor- und Wolkenphase ist die Beurteilung der Gefährdung der Bevölkerung in der Umgebung der Kernanlage bei einer bereits erfolgten oder späteren Freisetzung von radioaktiven Stoffen. Die Berechnungen dienen als Grundlage, um das möglicherweise gefährdete Gebiet einzugrenzen und über weitere eventuell notwendige Messungen sowie Massnahmen zum Schutze der Bevölkerung entscheiden zu können.
Das bis 2016 vom ENSI für die Ausbreitungsrechnungen eingesetzte Programm ADPIC hatte im Jahr 2011 seine letzte Ausbaustufe erreicht. ADPIC entsprach stets dem Stand von Wissenschaft und Technik und war international anerkannt. Um dem hohen Qualitätsanspruch auch in Zukunft genügen zu können, ist die laufende Weiterentwicklung des Ausbreitungsrechensystems unerlässlich.
Daher hat das ENSI im Januar 2011 das Projekt RADUK (Radiologische Ausbreitungsrechnungen in der Umgebung von Kernanlagen) gestartet, welches die Ablösung und den Ersatz von ADPIC durch ein moderneres System verfolgte. Als Ergebnis daraus ist seit 2016 die europäische Plattform JRODOS in Kombination mit dem Ausbreitungsmodul LASAT beim ENSI im operationellen Betrieb.
Beispiel einer Ausbreitungsrechnung
Verwandte Artikel
Artikel, News
ENSI-Strahlenschutzseminar 2024: Messmittel im Strahlenschutz
Am 31. Oktober 2024 hielt das ENSI zum mittlerweile fünften Mal ein Strahlenschutzseminar ab. Rund 50 Fachleute diskutierten über Messmittel, welche relevant für den Strahlenschutz sind, sowie über deren Einsatz.
Analyse, Artikel, News
Radioaktivitäts-Messflüge 2024 der NAZ: Keine erhöhten Werte
Bei den Messflügen am 29. und 31. Mai 2024 stellte die Nationale Alarmzentrale NAZ in der Umgebung der Kernkraftwerke Beznau und Leibstadt keine ungewöhnlichen Werte fest. Die Kontrollmessungen erfolgten im Auftrag des ENSI und zeigten keine Veränderungen im Vergleich zu den Resultaten der Vorjahre.
Artikel, News
Commission on Safety Standards: Prioritäten für die nukleare Sicherheit definiert
Vom 28. bis 30. Mai 2024 fand das erste Treffen der Commission on Safety Standards (CSS) für die Amtsperiode 2024 bis 2027 statt. Schwerpunkt des Treffens war die Sammlung der Erfahrungen aus der letzten Amtsperiode und die Erarbeitung der Prioritäten für die nächsten vier Jahre. Für die aktuelle Amtsperiode hat die Schweiz den Vorsitz.
Artikel, News
Strahlenschutzbericht 2023: Alle gesetzlichen Grenzwerte eingehalten
Im Jahr 2023 haben die Schweizer Kernanlagen sämtliche Grenzwerte der Strahlenschutzgesetzgebung eingehalten. Zu diesem Schluss kommt das ENSI im Strahlenschutzbericht 2023. Weiter thematisiert der Bericht Entwicklungen im Regelwerk, die Aufsicht beim Rückbau des KKW Mühleberg, die überarbeitete digitale Arbeitsoberfläche für die ENSI-Notfallorganisation und die Aeroradiometrie in der Schweiz.
Artikel, News
Im Auftrag des ENSI: Radioaktivitäts-Messflüge 2024 über Beznau und Leibstadt
Die Nationale Alarmzentrale NAZ überfliegt am 29. und 31. Mai 2024 für die diesjährigen Radioaktivitätsmessungen die Umgebungen der Kernkraftwerke Beznau und Leibstadt. Mit der sogenannten Aeroradiometrie lässt das ENSI die Radioaktivität am Boden schnell und grossräumig messen.
Artikel, News
Commission franco-suisse (CFS) 2024 : Langzeitbetrieb, Entsorgung und gegenseitige Inspektionen im Fokus
Am 15. und 16. Mai 2024 traf sich die Commission franco-suisse (CFS) zum 33. Mal. Die schweizerische und die französische Delegation tauschte sich an der zweitägigen Sitzung im Felslabor Mont Terri zur nuklearen Aufsicht und zum Strahlenschutz aus.
Artikel, News
Die spanische Aufsichtsbehörde tauscht sich mit dem ENSI zum Thema Strahlenschutz aus
Vom 6. bis 8. Mai 2024 besuchte eine Delegation der spanischen Aufsichtsbehörde das ENSI. Im Zentrum stand das Thema Strahlenschutz, insbesondere der Erfahrungsaustausch betreffend das KKW Leibstadt und das im Rückbau stehende KKW Mühleberg.
Artikel, News
Bilaterales Treffen Österreich-Schweiz: Tiefenlager für radioaktive Abfälle und Entwicklungen im Strahlenschutz im Fokus
Am 6. und 7. Mai 2024 sprachen die österreichische und die schweizerische Delegation in Bülach (ZH) über das Verfahren zur Entsorgung radioaktiver Abfälle sowie über den Strahlen- und den Notfallschutz.
Artikel, News
Übung mit Helikopterflügen beim Kernkraftwerk Gösgen
Am Donnerstag, 25. April 2024, üben Einsatzkräfte des Bundes und des Kernkraftwerks Gösgen-Däniken den Transport von Notfallmaterial. Dabei kommt es zu Flugbewegungen mit Superpuma-Helikoptern der Luftwaffe. Verschiedene Lasten werden vom Lager Reitnau (AG) zum Kernkraftwerk transportiert und an unterschiedlichen Absetzpunkten auf dem KKW-Gelände platziert.