In der Schweiz liegt die Verantwortung für die Sicherheit von Kernanlagen beim Betreiber. Dieser muss von Gesetzes wegen nachweisen, dass seine Anlage sicher ist. Die Aufsichtsbehörde, das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI, verlangt entsprechend bei den Betreibern Studien und Nachweise und legt dafür die Randbedingungen fest. Deshalb ist es auch Aufgabe der Betreiber, die Studien zu möglichen Gefährdungen wie Hochwasser, Extremwetter und Erdbeben zu erstellen. Nach Vorliegen der Unterlagen der Betreiber überprüft die Aufsichtsbehörde, ob diese korrekt und plausibel sind. Bei grösseren Projekten, wie der Bestimmung der Erdbebengefährdung, begleitet das ENSI mit eigenen Experten den Prozess. Diese Rollenverteilung entspricht den internationalen Vorgaben.
Beim Bau der Schweizer KKW hat man für die Einschätzung der Erdbebengefährdung auf historische Erdbebendaten zurückgegriffen. Diese wurden Mitte der 1970er Jahre statistisch ausgewertet und in einer Erdbebengefährdungskarte dargestellt.
Aufsichtsbehörde verlangt aktualisierte Erdbebengefährdungsannahmen
Da Erdbeben massgeblich zum Gesamtrisiko der KKW beitragen und die Wissenschaft grosse Fortschritte auf dem Gebiet der Erdbebengefährdungsanalyse gemacht hat, kam die Vorgängerorganisation des ENSI, die Hauptabteilung für die Sicherheit von Kernanlagen HSK, Mitte der 90er Jahre zum Schluss, dass die für die Schweizer KKW vorliegenden Erdbebengefährdungsanalysen nicht mehr in allen Punkten dem aktuellsten Stand entsprachen.
In den neunziger Jahren forderte die HSK die KKW-Betreiber auf, die Erdbebengefährdung an den Standorten nach den neuesten, probabilistischen Methoden zu bestimmen. Die HSK formulierte dabei methodische Vorgaben, die sich an den US-amerikanischen Empfehlungen des Senior Seismic Hazard Analysis Committee (SSHAC) orientierten. Weiter waren die Unsicherheiten der Rechenergebnisse umfassend zu quantifizieren.
Unabhängige, hochkarätige Wissenschaftler machen Studie
Zur Umsetzung der Forderung der HSK gaben die KKW-Betreiber das Projekt PEGASOS (Probabilistische Erdbebengefährdungsanalyse für die KKW-Standorte in der Schweiz) in Auftrag. Für die Studie konnten mehr als 20 erstrangige erdwissenschaftliche Fachexperten aus dem In- und Ausland gewonnen werden. 1999 starteten die Vorbereitungsarbeiten zu dieser in Europa bisher einzigartigen Studie. Anfang 2001 begannen die eigentlichen Projektarbeiten und im Sommer 2004 konnte die Studie abgeschlossen werden. Vorgegangen wurde gemäss dem SSHAC Level 4, welches die höchste und damit anspruchsvollste Stufe eines international anerkannten Vorgehens ist und den involvierten Wissenschaftlern Unabhängigkeit gewährt.
Die HSK begleitete zur Überprüfung das Projekt PEGASOS kontinuierlich mit einem Team anerkannter Experten. Im Schlussbericht stellte die HSK fest, dass die methodischen Vorgaben im Projekt erfüllt wurden und mit dem Projekt international ein neuer Standard gesetzt wurde. Die PEGASOS-Ergebnisse wiesen aber eine grosse Bandbreite an Unsicherheiten auf und führten auch aus diesem Grund zu deutlich erhöhten Gefährdungen. Die Unsicherheiten rührten vor allem von fehlenden oder lückenhaften Informationen über Erdbebenquellen und das Abminderungsverhalten von Fels und Untergrund her. Ferner hatte die PEGASOS-Studie im internationalen Vergleich Pioniercharakter und sowohl die Studie selbst als auch der in der Studie ausgewiesene Anstieg der berechneten Erdbebengefährdung wurden in der Fachwelt noch diskutiert.
Reduktion wegen zu vielen Unsicherheiten
Auf Antrag der Betreiber und auf Grund der ausgewiesenen grossen Unsicherheiten legte die HSK 2005 als Zwischenlösung die Gefährdungsannahme für die Probabilistischen Sicherheitsanalysen mit 80% der Bodenbeschleunigung aus den PEGASOS-Resultaten fest. Die damalige Reduktion um 20% erachtete die HSK als angemessen. Damit lagen die die neuen Gefährdungswerte bereits deutlich über den statistischen Auswertungen der historischen Erdbeben und waren im internationalen Vergleich deutlich schärfer. Um die Unsicherheiten mit Hilfe weiterer Daten (z.B. durch zusätzliche Bohrungen) und neuen Erkenntnissen zu reduzieren, wurde das PEGASOS Refinement Project PRP entworfen.
2008 startete die Dachorganisation der Schweizer Kernkraftwerkbetreiber swissnuclear mit dem PRP. Wiederum wird nach dem SSHAC-Ansatz gearbeitet und international anerkannte Experten engagiert, auf deren unabhängige Bewertung gemäss Verfahren geachtet wird. Grundlage des Projekts, das sich zurzeit in der Abschlussphase befindet, bilden neue und spezifischere Daten. Dazu wurden unter anderem im Umfeld der Kernkraftwerke Bohrungen und Messungen vorgenommen.
Kein Zuwarten nach Fukushima
Nach dem Erdbeben in Fukushima wollte das ENSI im Interesse der Sicherheit nicht auf den Abschluss des PRP warten und verfügte, dass die Kernkraftwerke auf der Basis eines PRP-Zwischenresultats den Nachweis erbringen müssen, ein 10‘000-jährliches Erdbeben zu beherrschen und bei einem Schadensfall eine erhöhte Strahlenbelastung ausschliessen zu können. Die PRP-Ergebnisse vom Mai 2011, die alle unter den ursprünglichen PEGASOS-Werten liegen, bestätigen bereits heute die Richtigkeit der damaligen Reduktion der PEGASOS-Werte.
Gemäss Plan von swissnuclear sollen die endgültigen Resultate des PRP bis Ende dieses Jahres vorliegen. Das ENSI wird die neuen Gefährdungsannahmen anschliessend eingehend prüfen und die Betreiber müssen gestützt auf den neuen und verfeinerten Resultaten erneut den Nachweis erbringen, dass ihre Werke ein 10‘000-jährliches Erdbeben beherrschen.
(Dies ist eine ergänzte Neufassung des Artikels „Die Annahmen der Erdbebengefährdung der Schweizer KKW werden laufend genauer“ vom 6. Januar 2012.)