b)
Ein geologisches Tiefenlager ist eine Gesamtanlage, die nebst anderen Teilanlagen u. a. auch ein Pilotlager umfasst. Der Bewilligungsinhaber eines geologischen Tiefenlagers ist für den Betrieb der Gesamtanlage und damit auch für ein dazugehöriges Pilotlager zuständig. Dabei ist er der Aufsicht durch das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI unterstellt. Es ist nicht vorgesehen, dass der Betrieb eines Pilotlagers auf einen zusätzlichen Bewilligungsinhaber übertragen wird. Es wird dem Lagerbetreiber freistehen, darüber zu entscheiden, wie er sein Betriebspersonal organisieren wird und welche Beobachtungen und Messdaten aus dem Pilotlager er direkt der Öffentlichkeit zugänglich machen wird.
Die Pflicht zur Entsorgung von radioaktiven Abfällen aus Kernanlagen liegt bei den Verursachern (Art. 31 Abs. 1 KEG). Im Falle der Kernkraftwerke sind dies deren Betreibergesellschaften. Radioaktive Abfälle aus den Bereichen Medizin, Industrie und Forschung (MIF) müssen vom jeweiligen Verursacher beim Bund gegen Gebühr abgeliefert werden. Nach der Ablieferung ist der Bund für die Entsorgung verantwortlich (Art. 33 Abs.1 Bst. a KEG). Die Entsorgungspflicht ist erfüllt, wenn die Abfälle in ein geologisches Tiefenlager verbracht wurden und die Finanzierung für das Lager sichergestellt ist (Art. 31 Abs. 2 Bst. a KEG). Die Aufgabe der Entsorgung der radioaktiven Abfälle wurde von den vorgenannten Entsorgungspflichtigen der Nagra (Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle) übertragen. Zweck der Nagra ist gemäss ihren Statuten die Errichtung und den Betrieb von Lagern für radioaktive Abfälle und der dazu notwendigen Anlagen.
Das in der Frage angeführte Zitat der Nagra muss zuerst in seinem zeitlichen Kontext betrachtet werden. Der zitierte technische Bericht NTB 02-02 wurde von der Nagra als Projektbericht zum Entsorgungsnachweis für abgebrannte Brennelemente, verglaste hochaktive Abfälle sowie langlebige mittelaktive Abfälle im Dezember 2002 veröffentlicht. Damit wurde er noch unter dem damaligen Atomgesetz vom 23. Dezember 1959 (AtG) formuliert, also noch bevor im März 2003 der Beschluss zum neuen Kernenergiegesetz (KEG) gefasst wurde und dieses per 1. Februar 2005 in Kraft trat. Das Pilotlager war damals ein Teil des EKRA-Konzepts (vgl. Teilfrage 156 a). Die gesetzliche Verankerung des Pilotlagers und der Zuständigkeiten bei dessen Betrieb waren zu jenem Zeitpunkt noch nicht erfolgt.
Ein geologisches Tiefenlager besteht aus dem Hauptlager zur Aufnahme der radioaktiven Abfälle, aus einem Pilotlager und aus Testbereichen (Art. 64 KEV). Ein geologisches Tiefenlager ist somit als eine übergeordnete Gesamtanlage zu verstehen, die nebst anderen Teilanlagen u. a. auch ein Pilotlager umfasst. Der Bewilligungsinhaber eines geologischen Tiefenlagers ist für den Betrieb der Gesamtanlage und damit auch für ein dazugehöriges Pilotlager zuständig.
Für den Betrieb eines geologischen Tiefenlagers benötigt der Inhaber des Tiefenlagers u. a. eine Betriebsbewilligung (Art. 21 KEG). In erster Linie ist der Bewilligungsinhaber für die Sicherheit der gesamten Anlage und des Betriebs verantwortlich (Art. 22 Abs.1 KEG). Es ist nicht vorgesehen, dass der Betrieb von Teilen eines geologischen Tiefenlagers, beispielsweise eines Pilotlagers, auf einen anderen Bewilligungsinhaber übertragen wird. Die Überwachung des Pilotlagers wird somit primär dem Inhaber des Lagers obliegen. Dies ist durchaus zu begründen: Gemäss Art. 66 KEV ist im Pilotlager das Verhalten der Abfälle, der Verfüllung und des Wirtgesteins bis zum Ablauf der Beobachtungsphase zu überwachen. Bei dieser Überwachung sind Daten zur Erhärtung des Sicherheitsnachweises im Hinblick auf den Verschluss des Tiefenlagers zu ermitteln. Die im Pilotlager gewonnenen Daten sollen also primär dem Bewilligungsinhaber zur Erfüllung seiner Pflichten dienen, somit muss auch die Verantwortung für den Betrieb des Pilotlagers bei ihm liegen.
Der künftige Betreiber eines geologischen Tiefenlagers wird unter Aufsicht des ENSI (Art. 70 Abs. 1 KEG) stehen. Das ENSI übt seine Aufsichtstätigkeit selbständig und unabhängig aus (Art. 18 Abs. 1 ENSIG). Um eine unabhängige und wirkende Aufsicht zu gewährleisten, ist es eine wesentliche Voraussetzung, dass die Verantwortung für ein geologisches Tiefenlager einschliesslich eines Pilotlagers klar einem Betreiber zugewiesen ist und nicht auf mehrere Gesellschaften verteilt ist.
Sollten vom Lagerbetreiber im Pilotlager «unvorhergesehene Vorgänge»1 beobachtet werden, so ist dieser dazu verpflichtet, umgehend das ENSI zu informieren sowie weitere Abklärungen zu treffen und Massnamen zu ergreifen, welche die Sicherheit des Pilotlagers und der Gesamtanlage gewährleisten (Art. 22 Abs. 2 KEG, Art. 32 Abs. 2 KEV, Art. 38 Abs. 3 KEV). Dem ENSI stehen im Fall des Auftretens von «unvorhergesehen Vorgängen» überdies umfassende Befugnisse zu, um die zur Einhaltung der nuklearen Sicherheit und Sicherung notwendigen Anordnungen erlassen zu können. Als Ultima Ratio könnte dies aufgrund von Beobachtungen im Pilotlager auch das Anordnen des Rückholens von Abfällen sein. Zusätzlich kann das ENSI im Rahmen seiner Aufsichtstätigkeit bei Bedarf präventiv oder ereignisbezogen eigene, zusätzliche Messungen im Pilotlager und radiologische Umweltüberwachungen durchführen. Das ENSI ist zudem verpflichtet, die Öffentlichkeit über den Zustand der Kernanlagen und insbesondere über besondere Ereignisse zu informieren (Art. 74 KEG). Ein Eingreifen durch eine aussenstehende Drittorganisation im Falle von «unvorhergesehenen Vorgängen», wie dies in der Fragestellung angesprochen wird, wurde vom Gesetzgeber nicht vorgesehen. Sowohl der Lagerbetreiber wie auch die Aufsicht werden durch die Konzentration der Verpflichtung, für ihr Handeln und die daraus entstehenden Folgen jederzeit selbst einzustehen, dazu angehalten, vorausschauend verantwortungsvoll und sicherheitsgerichtet zu handeln. Zum Betrieb eines geologischen Tiefenlagers muss dessen Betreiber die von Gesetz und Behörden geforderten Nachweise erbringen. Sämtliches in einem geologischen Tiefenlager eingesetztes Personal muss für die ihm übertragenen Arbeiten und Aufgaben über spezifische Fachkenntnisse verfügen. In Bezug auf die im Fragetext angesprochene Aufteilung des Betriebspersonals in voneinander abgetrennte Einheiten ist festzuhalten, dass für das gesamte in einem Tiefenlager eingesetzte Personal der Lagerbetreiber zuständig sein wird. Ob letzterer für den Betrieb eines Pilotlagers zur Erfüllung der spezifischen Fachanforderungen eine eigene, organisatorisch vom übrigen Betriebspersonal abgetrennte Personaleinheit einsetzt oder ob er gewisse Aufgaben an externe Auftragnehmer erteilt, wird innerhalb der gesetzlichen und behördlichen Vorgaben in der Eigenverantwortung des Betreibers liegen.
Den Beobachtungen aus einem Pilotlager kommt nebst deren Bedeutung zur Erbringung von sicherheitstechnischen Nachweisen auch eine gesellschaftliche Wirkung zu. Die Öffentlichkeit wird mutmasslich dereinst ein Interesse an den in einem Pilotlager gewonnenen Beobachtungen haben. Es ist vorstellbar, dass der Lagerbetreiber im Sinne der Transparenz über den Anlagenbetrieb und zur Wahrung eines Vertrauensverhältnisses mit der Standortregion die Messdaten aus einem Pilotlager weiteren Fachkreisen oder der Öffentlichkeit zuganglich machen wird. Ein solcher Entscheid wird unter Berücksichtigung der künftigen Rahmenbedingungen und öffentlichen Interessen dem Lagerbetreiber obliegen und ist noch nicht heute zu treffen. Die Verantwortung über ein Pilotlager und die dort gewonnenen sicherheitstechnischen Befunde verbleibt aber entsprechend den oben vorgebrachten Erläuterungen zu jeder Zeit beim Betreiber des Tiefenlagers.
[1] Unter den im Fragetext erwähnten «unvorhergesehenen Vorgängen» werden hier Beobachtungen oder Befunde aus der Überwachung des Pilotlagers verstanden, welche belegen oder darauf hinweisen, dass das Verhalten der im Pilotlager oder im Hauptlager eingelagerten Abfälle oder der Sicherheitsbarrieren von den zugrunde gelegten Modellvorstellungen massgeblich abweicht. Bei solchen Beobachtungen handelt es sich nicht um Störfälle; es geht keine direkte Gefährdung von Mensch und Umwelt von ihnen aus. In der Regel ist kein unmittelbar dringliches Eingreifen im Sinne einer Störfallbehandlung erforderlich.
Referenzen
AtG: Bundesgesetz vom 23. Dezember 1959 über die friedliche Verwendung der Atomenergie, vom 23. Dezember 1959 (Stand am 27. Juli 2004), Schweiz, SR 732.0.
EKRA (2000): Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle, EKRA, 31. Januar 2000.
ENSIG: Bundesgesetzes über das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat vom 22. Juni 2007 (Stand am 1. Januar 2012), Schweiz, SR 732.2.
ENSI-G03: Geologische Tiefenlager, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Brugg, Dezember 2020.
ENSI-G03 (2009): Spezifische Auslegungsgrundsätze für geologische Tiefenlager und Anforderungen an den Sicherheitsnachweis, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Villigen, April 2009.
KEG: Kernenergiegesetz vom 21. März 2003 (Stand am 1. Januar 2021), Schweiz, SR 732.1.
KEV: Kernenergieverordnung vom 10. Dezember 2004 (Stand am 1. Februar 2019), Schweiz, SR 732.11.
Nagra (2002): Projekt Opalinuston: Konzept für die Anlage und den Betrieb eines geologischen Tiefenlagers – Entsorgungsnachweis für abgebrannte Brennelemente, verglaste hochaktive sowie langlebige mittelaktive Abfälle. Nagra Technischer Bericht NTB 02-02.
SEFV: Verordnung über den Stilllegungsfonds und den Entsorgungsfonds für Kernanlagen vom 7. Dezember 2007 (Stand am 1. Januar 2020), Schweiz, SR 732.17.