a)
Die Richtlinie ENSI-G03 schreibt vor, dass für den Sicherheitsnachweis Daten, Prozesse und Modellkonzepte gemäss Stand von Wissenschaft und Technik zu verwenden und deren Unsicherheiten aufzuzeigen sind. Der Sicherheitsnachweis ist auf die Ergebnisse einer umfassenden Sicherheitsanalyse abzustützen, in der das Langzeitverhalten eines geologischen Tiefenlagers und die daraus resultierenden sicherheitsrelevanten Auswirkungen untersucht werden. Neben quantitativen Betrachtungen ist auch die Bewertung qualitativer Aspekte im Sicherheitsnachweis aufzuführen.
Der Sicherheitsnachweis hat Aufschluss über die Zuverlässigkeit der getroffenen Aussagen und über die sicherheitstechnische Relevanz von Unsicherheiten zu geben. Unsicherheiten sind, soweit notwendig und möglich, durch Forschung und Datenerhebung zu reduzieren. Die verfügbaren technisch-wissenschaftlichen Daten über das geologische Tiefenlager und seine Umgebung, die Informationen über die eingelagerten Abfallgebinde, die während des Betriebs gewonnenen Erkenntnisse und die Ergebnisse der Überwachung sind im Sicherheitsnachweis zu berücksichtigen.
Unsicherheiten in den Daten, Prozessen und Modellkonzepten sowie in der zukünftigen Entwicklung eines geologischen Tiefenlagers sind unvermeidlich. Der Umgang mit Unsicherheiten ist im Sicherheitsnachweis und in der Sicherheitsanalyse ein zentrales Element. Um die Robustheit der Wirkung des Barrierensystems aufzuzeigen, werden deshalb auch Entwicklungen betrachtet, die wenig wahrscheinlich oder sogar rein hypothetisch („what if“-Fälle) sind.
Die systematische Untersuchung des Einflusses der Unsicherheiten auf die Langzeitsicherheit dient dazu, das Vertrauen in die Aussagen zur Langzeitsicherheit zu stärken, den zukünftigen Forschungsbedarf aufzuzeigen und die Auslegung des geologischen Tiefenlagers zu optimieren.
Modelle werden eingesetzt, um das Langzeitverhalten des ganzen Tiefenlagersystems zu beschreiben. Dies umfasst das Verhalten der radioaktiven Abfälle, Komponenten wie Behältermaterialien, das Verhalten des Nahfelds (Verfüllung), das Verhalten des Gebirges. Teil des Sicherheitsnachweises sind die Betrachtung verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten des Tiefenlagers und die Analyse der radiologischen Folgen dieser Entwicklungsszenarien. Betrachtet werden unter anderem Prozesse wie Erosion, Hebung, Erdbeben und die Veränderung von Klimabedingungen.
Die Möglichkeiten der Entwicklung eines geologischen Tiefenlagers werden durch die Eigenschaften seiner Komponenten sowie die Abfolge von Ereignissen und Prozessen (features, events and processes; FEP) bestimmt, welche die Freisetzung von Radionukliden aus dem Lager und deren Transport in den Lebensraum des Menschen (die Biosphäre) beeinflussen. Die FEPs ergeben sich zunächst aus dem Verständnis des betrachteten Systems heraus, werden aber üblicherweise durch den Vergleich mit internationalen FEP-Datenbanken bisheriger Endlagerprojekte überprüft. Basierend auf den massgeblichen FEPs werden die Szenarien definiert, innerhalb derer sich das Lagersystem voraussichtlich entwickeln wird. Dabei sind Vereinfachungen, welche eine Zusammenfassung ähnlicher Szenarien erlauben, zulässig, um eine zu feine Einteilung in Szenarien zu vermeiden.
Mit der Berechnung der radiologischen Folgen umhüllender Varianten der Entwicklung eines geologischen Tiefenlagers wird davon ausgegangen, dass die tatsächliche Entwicklung mit keiner grösseren Freisetzung verbunden sein wird, als sich in diesen Entwicklungsvarianten zeigt. Allenfalls sind auch konservative Annahmen für die Wahl der Modellansätze und Modellparameter in die Berechnungen einzubeziehen. Dazu gehören auch Freilegungsszenarien und das unbeabsichtigte menschliche Eindringen. Bei der Modellierung von Szenarien können auch stilisierte Annahmen verwendet werden wie zum Beispiel die Biosphärenmodellierung.
Die möglichen Prozesse und Entwicklungsmöglichkeiten werden systematisch betrachtet. Als Beispiel sei auf die internationale Sammlung «International Features, Events and Processes (IFEP) List for the Deep Geological Disposal of Radioactive Waste» hingewiesen, in der die einzelnen Entwicklungsmöglichkeiten gruppiert dokumentiert sind:
FEP 1: External factors: Repository issues (pre-closure), Geological factors, Climatic factors, Future human actions, Other external factors.
FEP 2: Waste package factors: Waste form, Waste packaging characteristics and properties, Waste package processes, Contaminant release [waste form], Contaminant migration [waste package]
FEP 3: Repository factors: Repository characteristics and properties, Repository processes, Contaminant migration [repository]
FEP 4: Geosphere factors: Geosphere characteristics and properties, Geosphere processes, Contaminant migration [geosphere]
FEP 5: Biosphere factors: Surface environment, Human characteristics and behavior, Contaminant migration [biosphere], Exposure factors
Sensitivitäts- und Unsicherheitsanalysen geben wertvolle Hinweise auf eventuell notwendige weitere Untersuchungen und Methodenentwicklungen, um die bestehenden Unsicherheiten der Eingabewerte und Modelle zu reduzieren. Sie kann die Abhängigkeit der Berechnungsergebnisse von möglichen Vereinfachungen aufzeigen. Probabilistische Berechnungen können verwendet werden, um die mit den Szenarien verbundenen Risiken unter Berücksichtigung der Parameterbandbreiten, respektive deren dazugehörigen Unsicherheiten zu quantifizieren.
Nach Möglichkeit sind die Aussagen der Sicherheitsanalysen durch Naturanaloga zu stützen. Als Naturanaloga bezeichnet man für ein geologisches Tiefenlager relevante Geosysteme, Materialien und Prozesse in der Natur, deren Verhalten über lange Zeiträume der Vergangenheit untersucht werden kann. Darunter fallen auch anthropogene Materialien, die über längere Zeiträume natürlichen Prozessen ausgesetzt waren. Die Untersuchungen solcher Naturanaloga helfen bei der Abschätzung möglicher Entwicklungen und der Beurteilung der Langzeitsicherheit eines geologischen Tiefenlagers.
Die Dosisberechnung stützt sich unter anderem auf Annahmen über die Strahlungsempfindlichkeit und die Lebensweise von Menschen, die in weit entfernter Zukunft leben. Die Richtlinie ENSI-G03 fordert, dass aus heutiger Sicht glaubwürdige Annahmen zu treffen sind.
Damit ist gemeint, dass ausgehend von mutmasslichen örtlichen und klimatischen Gegebenheiten eine für heutige Menschen mögliche Besiedlung und Lebensweise anzunehmen ist. Die Ergebnisse der Individualdosis-Berechnung dienen der Bewertung der Freisetzung der radioaktiven Stoffe aus dem geologischen Tiefenlager und somit der Bewertung der in der Zukunft vorhandenen Schutzfunktion des geologischen Tiefenlagers. Für die Bewertung der Langzeitsicherheit sind auch Szenarien einzubeziehen, welche die Folgen von menschlichen Handlungen analysieren.
Bei der Modellierung der einzelnen Prozesse kommen je nach Anwendungsgebiet unterschiedliche Programme zum Einsatz. Das ENSI achtet darauf, die Berechnungen mit anderen Programmen als die Nagra durchzuführen.
b)
Der Philosoph Karl Raimund Popper war der Ansicht, dass die wissenschaftliche Praxis durch ihr kontinuierliches Bemühen gekennzeichnet ist, Theorien anhand von Erfahrungen zu testen und auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Tests Überarbeitungen vorzunehmen sind.
Grundlage jeder Modellierung ist die Erfahrung, dass sich ablaufende Prozesse mathematisch fassen und berechnen lassen. Im Falle der Modellierung der im Tiefenlager und im geologischen Umfeld ablaufenden Prozesse ist die Kenntnis dieser Prozesse, ihre gegenseitigen Abhängigkeiten, die Kenntnis der Ausgangsbedingungen von grosser Bedeutung. Das Modell lässt sich, je nach Fragestellung, durch einen Satz von Gleichungen beschreiben. In diese Gleichungen gehen Parameter ein, die experimentell bestimmt werden.
Werden Modellierungen im Sicherheitsnachweis verwendet, ist also zu überprüfen, ob alle sicherheitsrelevanten Prozesse erfasst und mathematisch korrekt beschrieben wurden. Letzteres erfolgt anhand von Experimenten, deren Resultate die Anwendbarkeit des Modells überprüfen. Zudem ist zu überprüfen, ob alle in die Gleichungen einfliessenden Parameter experimentell belastbar bestimmt wurden.
Die stete Verfeinerung der Modelle und das Hinterfragen, ob die Modelle im Hinblick auf die Langzeitsicherheit anwendbar sind, ist ein Grundsatz bei der Erstellung und Prüfung eines Sicherheitsnachweises.
e)
Uniformitarismus ist die Annahme, dass die gleichen Naturgesetze und Prozesse, die in unseren heutigen wissenschaftlichen Beobachtungen festgestellt werden, auch in der Vergangenheit gewirkt haben. In der Geologie geht der Uniformitarismus von der Annahme aus, dass «die Gegenwart der Schlüssel zur Vergangenheit ist» und dass aktuell beobachtbare geologische Prozesse auch in der Vergangenheit aufgetreten sind.
Im 18. Jahrhundert wurde dieser Ansatz von britischen Naturforschern wie William Whewell im Gegensatz zum Katastrophismus entwickelt. Zu erwähnen sind dabei auch James Hutton mit seinem Buch Theory of the Earth. Diese Ideen wurden von John Playfair verfeinert und durch Charles Lyell im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in seinem Buch Principles of Geology bekannt gemacht. Die Entwicklung des Planeten wird heute als ein langsamer, stetiger Prozess angesehen, der von gelegentlichen Naturkatastrophen unterbrochen wird.
Die Bewertung der potenziellen radiologischen Auswirkungen eines geologischen Tiefenlagers muss den unvermeidlichen, mit zunehmender Zeitspanne wachsenden Unsicherheiten Rechnung tragen. So haben technische Barrieren, Wirtgestein, umgebende geologische Schichten, Biosphäre und die Lebensgewohnheiten der Menschen jeweils eine unterschiedliche zeitliche Prognostizierbarkeit.
Der geforderte Nachweiszeitraum von bis zu einer Million Jahren ist abgeleitet vom zeitlichen Verlauf des radiologischen Gefährdungspotenzials der eingelagerten abgebrannten Brennelemente und von den Zeiträumen (bis zu einigen Millionen Jahren), in denen belastbare Aussagen zur geologischen Langzeitentwicklung in der Schweiz möglich sind.
Zu den Unsicherheiten, die im Sicherheitsbericht aufzuzeigen und zu quantifizieren sind, gehören Unsicherheiten bezüglich Konzeptualisierungen, Rechenmodellen, Szenarien und Parametern. Die gesamte Unsicherheit des Tiefenlagersystems kann auch durch Anpassung der Auslegung des Tiefenlagers reduziert werden.
Grundlage der Modellierung ist der Ansatz, dass die Kenntnisse der möglichen Szenarien, der dabei ablaufenden Prozesse und der mögliche Parameterraum (beispielsweise der Bereich zu betrachtender Hebungsraten) ausreichen, die Bandbreite der potenziellen radiologischen Auswirkungen zu bestimmen.
Wie unter Teilfrage b) dargelegt, bildet die Erfahrung, dass sich ablaufende Prozesse mathematisch fassen und berechnen lassen, Grundlage. Werden die Modellierungen im Sicherheitsnachweis verwendet, ist also zu überprüfen, ob alle sicherheitsrelevanten Prozesse erfasst und mathematisch korrekt beschrieben wurden. Letztere erfolgt anhand von Experimenten, deren Resultate die Anwendbarkeit des Modells überprüfen. Zudem ist zu überprüfen, ob alle in die Gleichungen einfliessenden Parameter experimentell belastbar bestimmt wurden.