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Zehn Jahre nach Fukushima (2/6): Die radiologischen Auswirkungen des Unfalls

Hochrechnungen zufolge wurde nach dem Nuklearunfall in Fukushima-Daiichi etwa ein Achtel der damals in Tschernobyl entwichenen Menge an Radioaktivität an die Umgebung abgegeben. Die höchste abgeschätzte Strahlendosis für die Bevölkerung lag bei 7,5 Millisievert. Gemäss diversen Studien hatten psychische Probleme im Nachgang des Unfalls aber einen grösseren Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung als die Strahlenexposition.

Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi am 11. März 2011 wurden erhebliche Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt abgegeben. Sie breiteten sich über den Luftweg aus und lagerten sich insbesondere durch den folgenden Niederschlag in der Umgebung ab. Kontaminiertes Wasser gelangte unkontrolliert in den Pazifik. Die Abschätzung der Gesamtfreisetzung führte zur INES-7-Einstufung des Unfalls auf der internationalen Ereignisskala. Es handelte sich dabei um die höchste Stufe mit der Bezeichnung «katastrophaler Unfall».

Die Unsicherheiten bei der Freisetzungsmenge

Für die Bestimmung der freigesetzten Menge an radioaktiven Stoffen (der sogenannte Quellterm) griffen die Experten auf Schätzungen und aufwändige Rückrechnungen zurück. Die Bestimmung des Quellterms nach der Freisetzung gleicht der Umkehrung der Rechnungen, wie sie das ENSI bei einem Kernkraftwerksunfall in der Schweiz durchführen würde: Auch für die Prognose der zu erwartenden Kontamination der Umgebung werden der Quellterm und Wetterprognosedaten verwendet.

Die grösste Freisetzung – etwa ein Achtel der in Tschernobyl freigesetzten Menge an Radioaktivität – erfolgte vom 12. bis zum 31. März 2011. Die Messungen in der Umgebung von Fukushima-Daiichi zeigten, dass insbesondere zwei Nuklide, Iod-131 und Cäsium-137, für die Kontamination der Umgebung und die Strahlenexposition der Bevölkerung von Bedeutung sind. Expertenteams gehen davon aus, dass über die gesamte Dauer des Unfalls aus drei Blöcken Cäsium-137 mit einer Radioaktivität in der Grössenordnung von 1016 Becquerel (Bq) und Iod-131 mit einer Radioaktivität in der Grössenordnung von 1017 Bq freigesetzt wurde.

Im Unterschied zu Tschernobyl konnte in Fukushima-Daiichi die Radioaktivität teilweise zurückgehalten werden, weil gewisse Barrierefunktionen noch intakt waren. In Tschernobyl hingegen wurden radioaktive Stoffe ungehindert über zehn Tage kontinuierlich freigesetzt.

Die radiologische Lage in der Umgebung

Regen und Schneefall führten während der Freisetzungen im März 2011 zu den höchsten Kontaminationen nordwestlich von Fukushima-Daiichi. Ein weiterer bedeutender Teil der freigesetzten Aktivität wurde in der Atmosphäre über den Pazifik getrieben. Gemäss Schätzungen hat sich bis zu 50 Prozent des freigesetzten Cäsium-137 auf der Wasseroberfläche abgelagert (IAEA, 2015: The Fukushima Daiichi Accident. Technical Volume 4/5. Radiological Consequences). Aufgrund des riesigen Volumens des Pazifiks und der entsprechenden Verdünnung des Cäsium-137 führten die Freisetzungen in die Atmosphäre zu keinen radiologisch bedeutenden Konzentrationen im Pazifik.

Während der Freisetzungen wurde die radiologische Lage hauptsächlich mit fix installierten Dosisleistungs- und Luftaktivitätsmessstationen verfolgt. Letztere zeigten bis Ende April 2011 erhöhte Luftaktivitätskonzentrationen (IAEA, 2015). Da nur eine beschränkte Anzahl fixer Messstationen vorhanden war, lieferten diese jedoch kein vollständiges Bild der radiologischen Lage.

Neben Bodenproben wurden bereits während des Unfalls und auch heute noch Luft, Boden, Gewässer sowie Trinkwasser, Flora, Fauna und Lebensmittel auf Radionuklide hin untersucht. In den Monaten März und April 2011 dominierte Iod-131 die radiologische Lage und war Basis für die angeordneten Einschränkungen bei Trinkwasser und Lebensmitteln. Bereits im Mai 2011 wurden die Einschränkungen beim Trinkwasser aufgehoben, da die Aktivität von Iod-131 aufgrund der kurzen Halbwertszeit deutlich unter 100 Bq/kg gesunken war (IAEA, 2015: The Fukushima Daiichi Accident. Technical Volume 4/5. Radiological Consequences). Cäsium-Isotope und andere künstliche Radionuklide stellten im Trinkwasser wie auch in Grund-, Fluss- und Meereswasser kein radiologisches Problem dar.

Ab Mai 2011 wurden die Cäsium-Isotope für die radiologische Lage dominierend – aufgrund kürzerer Halbwertszeiten und tieferer Kontaminationen konnten die übrigen Radionuklide vernachlässigt werden.

Die Cäsium-Konzentrationen nahmen in den Lebensmitteln im Laufe der Zeit ab. Während im März 2011 auch in Milchproben noch Cäsium von über 50 Bq/kg gefunden wurde, reduzierte sich dieses in den Folgemonaten bei allen Proben auf unter 50 Bq/kg. Mit Ausnahme von Fisch, Schweinefleisch und Wildpilzen lagen bereits im Verlauf des Jahres 2013 die gemessenen Werte in Lebensmittelproben unter 100 Bq/kg (IAEA, 2015: The Fukushima Daiichi Accident. Technical Volume 4/5. Radiological Consequences).

Im Jahr 2020 wurde in keiner der Lebensmittelproben der Präfektur Fukushima, welche die höchsten Kontaminationen aufweist, Cäsium von über 100 Bq/kg gemessen (https://www.new-fukushima.jp/product). Dazu beigetragen haben auch die Dekontaminationsarbeiten , bei denen unter anderem bei landwirtschaftlichen Nutzflächen die oberste Bodenschicht abgetragen wurde. Die Dekontaminationsarbeiten konnten bis auf ein Gebiet von rund 330 km2 (http://josen.env.go.jp/en/), abgeschlossen werden. So konnten die Bewohnerinnen und Bewohner in die betreffenden Gebiete zurückkehren und die anfänglichen Beschränkungen unter anderem beim Reisanbau wurden aufgehoben.

Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung

Noch am Abend des 11. März 2011 wurde die Bevölkerung im Drei-Kilometer-Umkreis der Anlage in Fukushima-Daiichi evakuiert, ab 5 Uhr des nächsten Morgens im Umkreis von zehn, am Abend des 12. März im Umkreis von 20 Kilometern. In den Folgemonaten wurden auch weitere Gebiete aufgrund der Strahlenbelastung evakuiert.

Dennoch war die Bevölkerung grosser Gebiete der ionisierenden Strahlung ausgesetzt. Ob über die Nahrung, beim Atmen oder über die Haut – die Strahlung gelangte in den Körper. Das United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) hat in seinem Bericht 2013 verschiedene Expositionsszenarien betrachtet, um die akkumulierten Strahlendosen für die Bevölkerung zu ermitteln.

Eine Region mit hoher Kontamination, in der auch die höchsten resultierenden Dosen zu erwarten waren, war die Präfektur Fukushima. Die höchsten durchschnittlichen Dosen wurden dort für Kleinkinder erhoben und lagen bei maximal 7,5 mSv. Für Erwachsene lag der entsprechende Wert bei etwa 4,3 mSv. Die nachfolgende Tabelle zeigt einen Überblick über die Dosen in verschiedenen Gebieten und erlaubt einen Vergleich.

Akkumulierte Durchschnittsdosen für das erste Jahr nach dem Unfall aus dem UNSCEAR-Bericht 2013. Die angegebenen Dosen werden aktuell von UNSCEAR mit verbesserten Modellen und Messungen überarbeitet. (Quelle: Sources, effects and risks of ionizing radiation UNSCEAR 2013 Report)

Da beim Fukushima-Daiichi-Unfall die breite Bevölkerung von niedrigen Dosen betroffen war, sind keine grösseren gesundheitlichen Folgen zu erwarten, insbesondere keine grösseren Auswirkungen auf das Gewebe. Im Rahmen der Risikoabschätzungen waren so wenige Krebsfälle zu erwarten, dass diese nicht eindeutig auf die Strahleneffekte im Zusammenhang mit dem Unfall zurückzuführen sind (Health risk assessment from the nuclear accident after the 2011 Great East Japan earthquake and tsunami, World Health Organisation WHO, 2013).

Aufgrund der Zunahme von Schilddrüsenkrebs bei Kindern nach dem Unfall in Tschernobyl wurde anfänglich nach dem Fukushima-Daiichi-Unfall ebenfalls eine erhöhte Rate befürchtet. Daraufhin wurden bei Kindern intensive Untersuchungen durchgeführt. Festgestellt wurden dabei eine grosse Anzahl an Schilddrüsenzysten und festen Knötchen. In anderen Präfekturen, die von keinen signifikanten Radionuklidablagerungen betroffen waren, wurden aber ähnliche, wenn nicht sogar leicht höhere Raten an Zysten und Knötchen gefunden. In seinem Bericht geht UNSCEAR daher davon aus, dass die erhöhte Rate in der Präfektur Fukushima dem intensiven Testen mit genaueren Methoden und nicht den Strahleneffekten zuzuschreiben ist (Developments since the 2013 UNSCEAR report on the levels and effect of radiation exposure due to the nuclear accident following the great East-Japan earthquake and tsunami, A 2017 white paper to guide the Scientific Committee’s future programme of work, UNSCEAR, 2017). Da die Schilddrüsendosen in der Umgebung von Fukushima-Daiichi ausserdem deutlich kleiner waren als diejenigen rund um Tschernobyl, wurde in Japan keine Zunahme an Schilddrüsentumoren infolge der radioaktiven Strahlung festgestellt.

Des Weiteren deutet der Bericht von UNSCEAR darauf hin, dass psychische Probleme beispielsweise aufgrund der Umsiedlungen einen grösseren Einfluss auf die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung hatte als Strahleneffekte

Die Beobachtung der betroffenen Bevölkerung bestätigt weiterhin die Grundaussagen des UNSCEAR-Berichts 2013. UNSCEAR hat vor, einen aufdatierten Bericht mit den neuesten Erkenntnissen zum Thema im März 2021 zu veröffentlichen.

Das ist der zweite Teil der ENSI-Serie anlässlich des zehnten Jahrestages der Katastrophe in Fukushima-Daiichi vom 11. März 2011. Der dritte Teil befasst sich mit den EU-Stresstests und erscheint am 18. Februar 2021.

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