Frage 142: Ortsdosisleistung als Funktion der Restüberdeckung eines geologischen Tiefenlagers als Funktion der Zeit
Im Rahmen der Kommentierung der Antworten zu den TFS-Fragen 111 bis 120 hat der Fragesteller festgehalten, dass mit den vorliegenden Antworten seine übergeordnete Frage nach dem theoretischen Gefährdungspotential nicht oder nur teilweise beantwortet wurden. Entsprechend hat er im Rahmen der Rückmeldung fünf ergänzende Fragen (TFS-Frage 138 bis 142) eingereicht.
Abgeleitet aus der TFS-Frage 119 sowie losgelöst von Szenarien stellt sich folgende Frage:
Die Fachgruppe bittet das TFS auszuweisen, ab welcher Restüberdeckung eines HAA-Lagers, eines SMA-Lagers und eines Kombi-Lagers Dosisleistungen an der Oberfläche messbar sind und wie sich diese ab dem Überschreiten der natürlichen Hintergrundstrahlung mit zunehmend weniger Restüberdeckung in Funktion der Zeit entwickeln.
Die in einem Tiefenlager befindlichen radioaktiven Materialien können unter Aussendung von α-, β- und γ-Strahlen zerfallen. α- und β-Strahlen werden durch wenige Zentimeter Gestein komplett abgeschirmt. Die γ-Strahlen legen eine grössere Distanz zurück, aber auch sie werden beim Durchgang durch das Gestein stark abgeschwächt (Figur 142-1). Eine Abschätzung für die durch das 137Cs produzierten γ-Strahlen zeigt, dass pro 50 cm Gestein die Intensität der γ-Strahlen jeweils um einen Faktor 10’000 geschwächt wird.
Die Direktstrahlung eines Tiefenlagers wird daher durch die darüber liegenden Gesteinsschichten abgeschirmt. Eine Strahlenbelastung kann nur durch Radionuklide entstehen, die langsam freigesetzt werden und stark verzögert in sehr kleinen Mengen an die Erdoberfläche gelangen. Die gesetzlichen Auflagen bestimmen, dass diese zusätzliche Strahlenbelastung nur einen Bruchteil der jährlichen natürlichen Strahlendosis ausmachen darf. Siehe auch Antwort zu TFS-Frage 39.
Im Folgenden werden die Eigenschaften der Strahlungsarten α, β und γ-Strahlen betrachtet.
Alphastrahlen sind Teilchenstrahlen. Ein α-Teilchen ist ein Kern eines Helium-Atoms. Diese Strahlenart hat in Materie eine sehr kurze Reichweite (Tabelle 142-1). Alphastrahlen aus den im Tiefenlager eingebrachten radioaktiven Abfällen werden durch den Behälter komplett abgeschirmt.
Auch Betastrahlen sind Teilchenstrahlen. Ein β-Teilchen ist ein Elektron. Diese Strahlenart hat in Materie gegenüber der α-Strahlung eine erhöhte Reichweite (Tabelle 142-2). Auch Betastrahlen aus den im Tiefenlager eingebrachten radioaktiven Abfällen werden durch den Behälter komplett abgeschirmt.
Wie normales Licht sind auch Gammastrahlen eine elektromagnetische Strahlung. Gammastrahlen haben gegenüber elektromagnetischer Strahlung wie Licht, Ultraviolett- oder Röntgenstrahlung eine stark erhöhte Energie. γ-Strahlung ist deshalb sehr durchdringend und kann in Materie nicht gestoppt, sondern nur abgeschwächt werden (Tabelle 142-3). Gammastrahlen aus den im Tiefenlager eingebrachten radioaktiven Abfällen werden durch den Behälter, die Verfüllung und vor allem die Gesteinsschichten auf ein ungefährliches, nicht messbares Niveau abgeschirmt.
Die Direktstrahlung aus einem Tiefenlager wird durch die Abschirmung der darüber liegenden Gesteinsschichten auf nicht mehr messbare Werte reduziert. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass eine Direktstrahlung durch Abfälle erst feststellbar wäre, wenn die Überdeckung auf einige wenige Meter reduziert worden wäre, da alle Strahlungsarten entweder gestoppt oder extrem stark abgeschwächt werden.
Gemäss den Anforderungen der Richtlinie ENSI-G03 darf die angesprochene Situation erst in ferner Zukunft, weit nach dem Nachweiszeitraum von 1 Million Jahre für ein Lager für hochaktive Abfälle eintreten. Es wird zudem verlangt, dass dieses Szenarium im Rahmen von Sicherheitsanalysen in den Bewilligungsschritten betrachtet werden muss. Szenarien, in denen der Tiefenlagerbereich aufgrund geologischer Vorgänge zunehmend Einflüssen der Erdoberfläche ausgesetzt wird, sind durch die Nagra in die Berechnungen der radiologischen Auswirkungen für die ferne Zukunft einzubeziehen. Die dabei berechneten Dosen sind nicht als effektive prognostizierte Strahlenbelastung einer definierbaren Bevölkerungsgruppe zu verstehen, sondern als Indikatoren zur Bewertung der potenziellen Radionuklidfreisetzung in die Biosphäre.
Die Nagra hat dies in NTB 08-05 auf den Seiten 60 bis 68 (2.5.6 Sicherheitstechnische Betrachtungen zum Einfluss der Erosion nach langen Zeiten) und im Anhang 5 (Seiten A5-20 bis A5-26) dokumentiert. In ihrem Modell 2: Erosion der Lagerkammern mit anschliessender Verfrachtung und Ablagerung des entsprechenden Materials wird sowohl die Strahlendosis aufgrund der Ingestion von Trinkwasser im Akkumulationsgebiet als auch aufgrund der Direktstrahlung aus dem Boden des Akkumulationsgebiets betrachtet (Figuren 142-2 und 142-3).
Für das HAA-Lager (BE- und HAA-Teil) liegen die berechneten Jahresdosen im gesamten betrachteten Zeitraum deutlich unterhalb der typischen Strahlenbelastung aufgrund der natürlichen Radioaktivität in der Schweiz, selbst für die ungünstigsten Parameterkombinationen. Nach einer Einschlusszeit von ungefähr 106 Jahren unterschreitet die berechnete Jahresdosis durch Direktstrahlung für die ungünstigste Parameterkombination das Schutzziel, während die entsprechende Jahresdosis durch Trinkwasserkonsum schon ab ungefähr 30’000 Jahren unter dem Schutzziel liegt.
Für den LMA-Teil des HAA-Lagers sowie das SMA-Lager unterschreitet die berechnete Jahresdosis im gesamten betrachteten Zeitraum und für alle betrachteten Parametervariationen das Schutzziel deutlich und liegt somit auch weit unterhalb der typischen Strahlenbelastung aufgrund der natürlichen Radioaktivität in der Schweiz.
In der Natur finden sich Beispiele, wie Uran aus oberflächennahen Gebieten freigesetzt wird. Ein aktuelles und gut dokumentiertes Beispiel sind die Beobachtungen am Lyssbach (Amt für Wasser und Abfall Bern 2015). Dort wurden erhöhte Urankonzentrationen im Wasser gefunden. Die gemessenen Konzentrationen von bis zu 400μg/L sind die höchsten in der Schweiz gemessenen Werte. Es handelt sich dabei aber nicht um Grundwasser, sondern um Wasser aus Drainagen.
Es konnte eine uranreiche Schicht lokalisiert werden, die sich über eine relativ grosse Fläche erstreckt, jedoch nur eine geringe Mächtigkeit aufweist. Die radiometrischen Messungen ergaben das in Figur 142-4 gezeigte Bild.
Das Vorhandensein der Uranablagerungen wurde wie folgt erklärt: Der Aare-Gletscher brachte uranhaltiges Gestein aus dem Wallis ins Mittelland. Das Gestein verwitterte und Uran sammelte sich im tiefergelegenen Moor an. Eine durchgeführte Melioration des Gebiets bewirkt seit dem 19. Jahrhundert eine Freisetzung von Uran (Figur 142-5).
Ein zusätzlicher Vergleich kann helfen, die Gefährdung durch ein freigelegtes Tiefenlager zu beurteilen. Uran wird durch Erosionsprozesse natürlich in die Fliessgewässer eingebracht (Figur 142-6).
Wieviel Uran wird dabei natürlich im Rhein transportiert? Der über ein Jahr gemittelte Abfluss bei Rekingen wird mit 465 m3/Sekunde= 465’000 Liter/Sekunde angenommen. Ein Liter enthält ein Mikrogramm Uran, also 0.000001 Gramm Uran. Unter diesen Annahmen fliesst bei Rekingen 465’000 x 0.000001 = 0.465 Gramm Uran pro Sekunde vorbei. Ist das viel oder wenig: Pro Stunde fliesst 1.6 kg vorbei, pro Tag fliessen 40.2 kg vorbei und pro Jahr fliessen 14.6 Tonnen Uran bei Rekingen vorbei.
In der Schweiz sind 30 Mikrogramm pro Liter Trinkwasser zulässig. Der Rhein könnte also 30mal mehr Uran in Trinkwasserqualität abtransportieren. Dies wären im Jahr 440 Tonnen Uran. Gemäss Nagra NTB 14-04 sind im Tiefenlager rund 2730 Tonnen Uran eingelagert. Dies bedeutet: Der Rhein könnte diese 2730 Tonnen Uran in weniger als 7 Jahren in Trinkwasserqualität wegschwemmen.
Die Urankonzentrationen in Mineralwässern können ebenfalls zur Veranschaulichung herangezogen werden (Figur 142-7).
Referenzen
NTB 08-05: Vorschlag geologischer Standortgebiete für das SMA- und das HAA-Lager: Begründung der Abfallzuteilung, der Barrierensysteme und der Anforderungen an die Geologie; Bericht zur Sicherheit und technischen Machbarkeit, Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, Nagra Technischer Bericht, Wettingen, 2008.
Richtlinie ENSI-G03: Spezifische Auslegungsgrundsätze für geologische Tiefenlager und Anforderungen an den Sicherheitsnachweis. Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI, Brugg, 2009.
Amt für Wasser und Abfall AWA, Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern (2015): Urananomalie im Lyssbach, Abschlussbericht.