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Technisches Forum Sicherheit

Frage 124: Nutzungskonflikt Geothermie

Der Konzeptteil des „Sachplan geologische Tiefenlagerung“ (SGT) nennt unter Kriterium 2.4 als möglichen Nutzungskonflikt auch Geothermie. In Etappe 1 SGT und im Ablauf der Etappe 2 SGT wurde das Kriterium bisher nicht als Ausschlusskriterium verwendet. Nun wird dieser Ressourcenkonflikt aber sicher im Verlauf der Standortwahl, namentlich in Etappe 3 SGT in Betracht gezogen werden müssen, namentlich, da die Erschliessung und Nutzung geothermischer Ressourcen zur Reaktivierung tektonischer Störungen führen kann und (je nach Nutzungsart) die Strömungsverhältnisse im Tiefengrundwasser stark verändert werden können. Dadurch würden einerseits Sicherheitsanalysen für ein Tiefenlager unsicher, und andererseits kann ein Lager durch reaktivierte Störungen und veränderte Strömungsverhältnisse gefährdet werden. Zur Erinnerung: etliche Standortregionen aus Rheintal (erhöhter Wärmefluss).

Nach welchen Kriterien wird im weiteren Verfahren, namentlich in Etappe 3 SGT, die Geothermie beurteilt?

Namentlich:

  1. Wie wird die Wärmequelle selbst (Erdwärmefluss) beurteilt (z.B. Obergrenze als Kriterium)?
  2. Welche Nutzungsoptionen werden betrachtet (Aquathermie, Petrothermie, offene oder geschlossene Systeme, Nutzung der Zirkulation in Bruchsystemen, Aquifere)?
  3. Auf welche Weise wird den Unbekannten eines noch erst wenig bekannten Energieträgers Rechnung getragen?
Thema Bereich
Eingegangen am 9. Mai 2014 Fragende Instanz Fragen aus der Bevölkerung
Status beantwortet
Beantwortet am 8. März 2016 Beantwortet von ,

Beantwortet von ENSI

Nutzungskonflikte werden im Sachplan durch das Kriterium 2.4 umfassend betrachtet und sind in jeder Etappe neu zu beurteilen. Basis dabei sind die heutigen Bedürfnisse der Gesellschaft, ein Rohstoff muss in besonderem Masse vorhanden sein und bei dessen Ausbeutung eine signifikante Beeinträchtigung der Sicherheit des Lagers vorliegen. Ein Ausschlusskriterium dazu gibt es nicht. Grundsätzlich sind alle technisch und wirtschaftlich sinnvollen Arten der Geothermie zu betrachten. Der Entscheid, welcher Nutzung der Vorrang gegeben wird, muss in einem gesellschaftlichen Diskurs geklärt werden. Fällt der Entscheid auf die Errichtung eines Tiefenlagers, so ist ein Lager in Zukunft unter Durchsetzung eines dafür eingerichteten Schutzbereichs zu schützen, auch wenn sich zukünftig neue Nutzungskonflikte ergeben.

Frage 124 lässt sich in eine Hauptfrage und drei Teilfragen unterteilen. Bezüglich der Hauptfrage hält das ENSI fest, dass mit dem Kriterium 2.4, Nutzungskonflikte, des Sachplans geologische Tiefenlager die Nutzungskonflikte im Sachplan in jeder Etappe beurteilt werden. Basis der Beurteilung ist, was „aus heutiger Sicht wirtschaftlich nutzungswürdig“ ist. Ein Rohstoff muss „in besonderem Masse“ vorhanden sein und es muss eine „signifikante Beeinträchtigung“ vorliegen. Die Geothermie (d.h. der Rohstoff „Wärme“) ist einer der dabei zu betrachtenden Nutzungskonflikte.

Ein Nutzungskonflikt zwischen Geothermie und Tiefenlagerung muss grundsätzlich in einem gesellschaftlichen Diskurs geklärt werden. Zum Schutz eines künftigen geologischen Tiefenlagers werden ab Rahmenbewilligung Schutzbereiche eingerichtet werden (Art. 40 KEV) und damit der Nutzungskonflikt gelöst. Bereits heute besteht für die Kantone in den Standortgebieten eine Meldepflicht für Aktivitäten im Untergrund unterhalb mindestens 200 Metern Tiefe. Für einen konkreten Fall kann fallspezifisch abgeklärt werden, ob eine gleichzeitige Nutzung möglich ist, ohne die Sicherheit eines Lagers zu tangieren. Kriterium bei dieser Abklärung muss der Schutz des geologischen Tiefenlagers sein. Die Detailkriterien sind in einem solchen Fall an die verwendete Methodik und den vorliegenden Nutzungskonflikt anzupassen. Sie werden nicht im Voraus festgelegt.

Es mag eingewendet werden, dass die Betrachtung des Kriteriums, das sich nur an der „heutigen Sicht“ orientiert, die mittel- und langfristige Perspektive ausklammert und dass daher allen Ressourcenkonflikten grundsätzlich auszuweichen wäre. Ein solcher Ansatz wäre wünschenswert,
wenn tatsächlich Gebiete ohne denkbare Ressourcenkonflikte vorliegen würden. Mit Blick auf die aus Etappe 1 des Sachplanverfahrens vorgeschlagenen Standortgebiete lassen sich jedoch aus Sicht des ENSI überall Ressourcenkonflikte formulieren, d. h. früher oder später muss zwangsweise eine
Interessensabwägung erfolgen. Der vom Gesetz dafür vorgesehene Schutzbereich (Art. 40 KEV) ist die Umsetzung dieser Interessenabwägung (zum Thema „Interessensabwägung“ verweisen wir ausserdem auf die Antwort des ENSI zu TFS-Frage 94 „Nutzungskonflikte nach mehreren Jahrtausenden“).

a)

Die Frage muss lokal- und methodenspezifisch betrachtet werden. Für die in der Nordschweiz vorhandenen hydrothermalen geothermischen Wärmequellen wird angenommen, dass diese mit den Randverwerfungen des Permokarbontroges verknüpft sind. Die Muster der hochströmenden Wässer sind jedoch nur ansatzweise verstanden, so dass eine Prognose, ob eine bestimmte Lokalität über dem Permokarbontrogrand für Geothermie geeignet ist, nur mit grosser Unsicherheit erfolgen kann. Für die Möglichkeit der Nutzung petrothermaler Geothermie ist insbesondere der geothermische Gradient ausschlaggebend, der in der Nordschweiz neben den Grabenrandzonen, in denen heisse Wässer aufsteigen, trotz der verdickten Kruste eher hoch ist. Eine Aussage seitens ENSI zu den Angaben der Nagra bezüglich Geothermie in den Unterlagen zu Etappe 2 liegt aktuell noch nicht vor, da das ENSI die Prüfung dieser Angaben noch nicht abgeschlossen hat. Eine Obergrenze im Sinne eines Ausschlusskriteriums (z.B. auf der Basis eines minimalen Wärmeflusses) ist aus Sicht des ENSI nicht sinnvoll, da damit diesem Kriterium ein unverhältnismässiges Gewicht gegeben wird und ein Ausschlusskriterium auch nicht einer Interessenabwägung entspricht .

b)

Der Nutzungskonflikt der Geothermie ist von der Nagra umfassend darzustellen. Dabei sollen keine Nutzungsarten ausgeklammert werden, die nach heutigem und in naher Zukunft denkbarem Stand der Technik sinnvoll ausgebeutet werden können. Allerdings mag sich das Potenzial der verschiedenen Nutzungsarten aufgrund der geologischen Randbedingungen lokal stark variieren. Wenn die Nagra in ihren Angaben Nutzungsarten nicht betrachtet, würde das ENSI in seiner laufenden Beurteilung ergänzende Betrachtungen verlangen oder solche eigenständig durchführen.

c)

Der Ausgangspunkt für die Beurteilung eines Nutzungskonflikts sind die heutigen gesellschaftlichen Nutzungsbedürfnisse und die zur Ausbeutung bzw. Nutzung eines Rohstoffs vorhandenen und absehbaren Techniken. Über die Zeit können sich neue Nutzungskonflikte ergeben. Sobald jedoch bzgl. Raumnutzung bereits Entscheide gefallen sind (d.h. Schutzbereiche unter Berücksichtigung der Ungewissheiten etabliert worden sind), geht das ENSI davon aus, dass diese gültig bleiben und damit der Bund den Kantonen den räumlichen Schutz der Lagerstandort vorgibt. Ab diesem Zeitpunkt müssen für weitere Nutzungen Abklärungen erfolgen, die aufzeigen, dass die langfristige Sicherheit des geologischen Tiefenlagers nicht beeinträchtigt wird (Art. 70 KEV). Langfristig kann aufgrund sich neu ergebender Nutzungskonflikte nicht 100%-ig ausgeschlossen werden, dass ein Lager in Unkenntnis angebohrt wird. Dazu sind seitens Nagra entsprechende Szenarien betrachtet worden (vgl. NTB 02-03, Kap. 7.6, vgl. auch Antwort der Nagra zu TFS-Frage 114 „Geothermiebohrung ins Geologische Tiefenlager“).

Beantwortet von Nagra

Die Nagra hat im Rahmen der Erarbeitung der Standortvorschläge für Etappe 2 des Sachplans geologische Tiefenlager auch eine Bewertung potenzieller Nutzungskonflikte mit geothermischen Projekten vorgenommen (Nagra NTB 14-02, Dossier VII). Aufgrund der auf www.geothermie.ch (September 2015) publizierten Karten existieren heute keine Nutzungskonflikte zwischen bestehenden oder geplanten geothermischen Anlagen und einem möglichen Tiefenlagerstandort. Potenziellen zukünftigen Zielgebieten für hydrothermale Geothermie-Projekte (Randstörungen des Nordschweizer Permokarbontrogs) wurde bei der Abgrenzung der Lagerperimeter ausgewichen. Petrothermale Projekte sind gemäss heutigem Kenntnisstand nicht an Störungssysteme gebunden. Wenn das System funktioniert, kann es vielerorts angewendet werden und entsprechend einfach kann der Standort eines geologischen Tiefenlagers für petrothermale Projekte gemieden werden (Nutzungsabwägung).

Vorbemerkung: Betreffend Nutzungskonflikte sind auch die Antworten des ENSI zu den TFS-Fragen 94, 124 und 125 zu beachten.

Grundsätzlich werden in der Schweiz folgende Arten von geothermischen Anlagen unterschieden, welche alle bei der Bewertung des entsprechenden Kriteriums berücksichtigt werden:

  • Untiefe geothermische Anlagen: Untiefe geothermische Anlagen werden der­zeit, mit Hilfe von Wärmepumpen, ausschliesslich zur Wärmeproduktion (Grundwasser, Erdwärme) in Bohrungen bis etwa 400 m Endteufe genutzt. Ein Sonderfall der untiefen Geothermie sind warme Quellen an der Oberfläche oder Drainagewässer aus Eisenbahn- oder Strassentunneln.
  • Tiefe hydrothermale und petrothermale geothermische Anlagen: Für tiefe geothermische Anlagen werden, je nach Situation, Bohrungen bis in Tiefen von mehreren Kilometern niedergebracht. Generell wird zwischen hydro­thermalen und petrothermalen Systemen unterschieden. Für die Erzeugung von elektrischer Energie werden hydrothermale Anlagen mit hohen Wasser­fliessraten und Temperaturen > 140 °C benötigt (mit dem Kalina- oder ähnlichen Ver­fahren sind auch Wässer mit etwas niedrigerer Temperatur nutzbar). Wässer mit Temperaturen unter 100 °C können ausschliesslich für die Wärmeproduktion verwendet werden.
    In hydrothermalen Systemen werden thermale Wässer aus sedimentären oder kristallinen Aquiferen genutzt, meist im Umfeld von tektonisch gestörten Zonen. In der Regel handelt es sich um Doubletten, in welchen die heissen mineralisierten Wässer in der einen Bohrung gefördert und in der anderen Bohrung in ausreichender Distanz Wasser in den Untergrund zurück versickert oder gepumpt werden. Hydrothermale Systeme können nur an ausgewählten Orten errichtet werden, da sie an lokale Gegebenheiten (Störungszonen, bestimmte Tiefenlage eines Aquifers) gebunden sind.
    Petrothermale Systeme werden auch als Hot Dry Rock (HDR) Systeme oder als Enhanced Geothermal Systems (EGS) bezeichnet. Im Gegensatz zu den hydrothermalen Systemen werden hier gering durchlässige Kristallingesteinskörper mit hohen Temperaturen in Tiefen von mehreren Kilometern genutzt, in welchen durch Fracking (in der Geothermie wird heute meist von Stimulation gesprochen) künstliche Klüfte erzeugt werden können. In diese Kluftsysteme wird in einer oder mehreren Injektionsbohrungen kaltes Wasser eingepresst, das sich bei der Durchströmung der Kluftsysteme erhitzt und danach gefördert wird. Diese Systeme stehen noch am Anfang der Entwicklung. Im Gegensatz zu hydrothermalen Systemen nutzen petrothermale Systeme bevorzugt die hohen Temperaturen im tiefen Untergrund und können praktisch überall errichtet werden.

Untiefe geothermische Anlagen

Untiefe geothermische Anlagen können fast überall erstellt werden. In den letzten Jahren haben sich auch die maximalen Bohrtiefen ständig nach unten bewegt. Die meisten Anlagen haben Endteufen zwischen 100 und 400 m.

In den geologischen Standortgebieten muss darauf geachtet werden, dass die günstigen Eigenschaften der für die Radionuklidrückhaltung wirksamen Gesteinsserien (einschluss­wirksamer Gebirgsbereich) nicht durch unkoordinierte Bohrtätigkeit negativ beeinflusst werden. Deshalb wurde mit dem Bundesratsentscheid zu Etappe 1 SGT auch festgelegt, dass die Kantone, basierend auf Unterlagen des ENSI, bei Bohrbewilligungen oder Konzessionen prüfen, ob mit den angefragten Tätigkeiten die Barriereneigenschaften des einschlusswirksamen Gebirgsbereichs gefährdet werden könnten (BFE 2011). Als Unterlage dazu hat die Nagra auf Aufforderung des ENSI für die Nordschweiz Karten erarbeitet, welche die maximal erlaubte Bohrtiefe zeigen (Schnellmann & Albert 2012). Diese Karten dienen den Kantonen als Grundlage bei der Erteilung von Bohrbewilligungen.

Potenzielle Nutzungskonflikte hinsichtlich zukünftiger hydrothermaler Anlagen

Aufgrund der auf http://www.geothermie.ch(September 2015) publizierten Karten existieren heute keine Nutzungskonflikte zwischen bestehenden oder geplanten geothermischen Anlagen und einem möglichen Tiefenlagerstandort. Eine Diskussion möglicher zukünftiger Zielgebiete für hydrothermale Geothermie-Projekte in der Nordschweiz ist in Nagra (2014b, Dossier VII, Kap. 4.4.1) zu finden.

Im hier relevanten Gebiet der Nordschweiz liegen,  – aufgrund theoretischen Überlegungen – Standorte mit potenziell hohem hydrothermalem Potenzial vor allem entlang der Randstörungen des Nordschweizer Permokarbontrogs. Es wird erwartet, dass die tektonische Zergliederung dort zu stark erhöhten Gebirgsdurchlässigkeiten geführt hat. Es gibt jedoch bis heute keine tiefen Explorationsbohrungen durch solche Randstörungen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch in hydrothermalen Systemen versucht wird, die Produktivität mittels zusätzlicher Stimulation (im Stil des Frackings) zu erhöhen, was mit einer erhöhten Seismizität verbunden sein könnte. Das Beispiel St. Gallen gibt Hinweise, dass Erdbebenherde an hydraulisch stimulierten Störungssysteme bzw. an deren nähere Umgebung gebunden sind (Figur 124-1 und Figur 124-2).  Bei der Abgrenzung der Lagerperimeter innerhalb der Standortgebiete (Nagra 2014a) wurde bekannten Randstörungen des Nordschweizer Permokarbontrogs aus­gewichen und post-paläozoisch reaktivierte Randbereiche des Trogs wurden aufgrund ihres  Potenzials einer zukünftigen tektonischen Reaktivierung als ‚zu meidende tektonische Zonen‘ eingestuft (Figur 124-3, vgl. auch Nagra 2014b, Dossiers II und III). Aufgrund dieser Vorsichtsmassnahmen gibt es keine Lagerperimeter, welche direkt über solchen geothermischen Zielgebieten liegen. Die Lagerperimeter werden aber teilweise durch solche Zonen begrenzt. In diesen Gebieten müssten – falls zukünftig ein Geothermie-Projekt in Trograndstörungen lanciert werden sollte – ein nötiger Sicherheitsabstand eingehalten und geeignete Überwachungsprogramme durchgeführt werden, damit eine Beeinträchtigung eines Tiefenlagers durch induzierte Bewegungen an Störungen bzw. Seismizität ausgeschlossen werden kann. In Etappe 3 des Sachplans sollen solche Sicherheitsabstände auf der Basis der neu gewonnen Erkenntnisse (3D-Seismik, Tiefbohrungen) standortspezifisch quantifiziert werden. Aufgrund der grossen Ost/West-Erstreckung der Trograndstörungen und der relativ geringen Ausdehnung eines potenziellen Lagerperimeters sind keine unvermeidbaren Nutzungskonflikte zu erwarten.

Figur 124-1: Geothermie-Projekt St. Gallen: Karte der Störungszonen und der induzierten Seismizität als Folge einer Bohrspülungsinjektion zur Verhinderung eines Gasausbruchs (Edward et al. 2015). Die bis zu 1 km östlich der kartierten Störungen liegenden Erdbebenherde sind sehr wahrscheinlich an Störungen gebunden, welche unterhalb des Auflösungsbereichs der spezifisch für dieses Projekt durchgeführten 3D-Seismik liegen.
Figur 124-1: Geothermie-Projekt St. Gallen: Karte der Störungszonen und der induzierten Seismizität als Folge einer Bohrspülungsinjektion zur Verhinderung eines Gasausbruchs (Edward et al. 2015). Die bis zu 1 km östlich der kartierten Störungen liegenden Erdbebenherde sind sehr wahrscheinlich an Störungen gebunden, welche unterhalb des Auflösungsbereichs der spezifisch für dieses Projekt durchgeführten 3D-Seismik liegen.

 

Figur 124-2: Vertikaler Profilschnitt durch die in Fig. 1 gezeigte gestörte Zone. Die induzierte Seismizität ist an das Umfeld Störungssystem gebunden. Aus Diehl et al. (2014), mit freundlicher Genehmigung der St. Galler Stadtwerke.
Figur 124-2: Vertikaler Profilschnitt durch die in Figur 124-1 gezeigte gestörte Zone. Die induzierte Seismizität ist an das Umfeld Störungssystem gebunden. Aus Diehl et al. (2014), mit freundlicher Genehmigung der St. Galler Stadtwerke.

 

Figur 124-3: Geologisches NNW-SSE-Profil durch das Standortgebiet Jura Ost. Die Lagerperimeter liegen ausserhalb von regionalen Störungszonen und 'zu meidenden tektonischen Zonen'.
Figur 124-3: Geologisches NNW-SSE-Profil durch das Standortgebiet Jura Ost. Die Lagerperimeter liegen ausserhalb von regionalen Störungszonen und ‚zu meidenden tektonischen Zonen‘.

 

Potenzielle Nutzungskonflikte hinsichtlich zukünftiger petrothermaler Anlagen

Zurzeit sind keine petrothermalen Projekte in oder im näheren Umfeld der sechs geologischen Standortgebiete bekannt. Generell gibt es zurzeit keine Hinweise auf sich abzeichnende potenzielle Nutzungskonflikte.

Die von einer im Bau befindlichen geothermischen Anlage induzierte Erdbeben in Basel haben dazu geführt, dass im Hinblick auf zukünftige Anlagen anstelle einer grossflächigen Kluft eher mit Hilfe eines Multi-Riss Verfahren Wärmeaustauschflächen von gleicher Gesamtfläche erzeugt werden, deren laterale Ausdehnung aber besser kontrolliert werden kann (Figur 124-4). Die umfassende seismische Überwachung eines solchen Projekts ist heute State-of-the-Art (Figur 124-4 unten). Multi-Riss Verfahren sind auch günstiger in Bezug auf induzierte Seismizität. Solche Projekte stellen – selbst wenn sie mehrere Kilometer unterhalb eines Tiefenlagers realisiert würden – keine Gefährdung eines Tiefenlagers im Opalinuston dar; die Abstände sind projektbedingt genügend gross. Wichtiger ist jedoch das Argument, dass die Methode – falls sie funktioniert – an so vielen Stellen eingesetzt werden kann (nicht an Störungen gebunden), dass das unmittelbare Umfeld eines geologischen Tiefenlagers gemieden werden kann.

Wärmeflusskarten als Grundlage für die Abgrenzung von Standortgebieten bzw Lagerperimetern?

Die existierenden Wärmeflusskarten der Nordschweiz (vgl. Diskussion in Nagra 2014b, Dossier VII, Kap. 4.3.2) sind kein geeignetes Instrument für eine Begrenzung der Lagerperimeter für ein Tiefenlager. Die Bohrungsdichte ist zu weitmaschig um möglicherweise eng begrenzte Anomalien zu lokalisieren. Prof. em. Dr. L. Rybach (einer der Hauptautoren der Wärmeflusskarten in der Nordschweiz), ist der Ansicht, dass die Anomalien vermutlich enger begrenzt sind, als auf der Karte aufgrund der relativ weitmaschigen Bohrungen dargestellt. Die Anomalien sind höchstwahrscheinlich auf Zonen mit advektiv aufsteigenden Wässern (PC-Trog Südrand / Faltenjura, PC-Trog Nordrand / Mandach-Überschiebung) zurückzuführen, wobei die Fliessraten gemäss Rybach sehr gering sind. Diesen Zonen wurde bei der Abgrenzung der Lagerperimeter bereits aufgrund ihrer potenziellen tektonischen Reaktivierbarkeit ausgewichen (s. oben).

Die Nagra sieht vor, die Wärmefluss- und Temperaturmodelle im Rahmen der Arbeiten für Etappe 3 des Sachplans weiter zu entwickeln, unter Berücksichtigung der Tiefen- und Formationsabhängigkeit der Temperaturgradienten, der expliziten Berücksichtigung der advektiven Komponente sowie der Berücksichtigung der Temperaturmessungen in den neuen Tiefbohrungen.

Figur 124-4: Konzepte der petrothermalen Geothermie (mit freundlicher Genehmigung der Geoenergie Suisse AG); oben: Vergleich Konzept Geothermieprojekt Basel versus Multi-Riss Verfahren der Geoenergie Suisse AG; unten: Konzeptuelle Entwicklung eines Multi-Riss Verfahrens mit Ueberwachung der Seismizität
Figur 124-4: Konzepte der petrothermalen Geothermie (mit freundlicher Genehmigung der Geoenergie Suisse AG); oben: Vergleich Konzept Geothermieprojekt Basel versus Multi-Riss Verfahren der Geoenergie Suisse AG; unten: Konzeptuelle Entwicklung eines Multi-Riss Verfahrens mit Ueberwachung der Seismizität.

Unbeabsichtigtes Anbohren eines Tiefenlagers im Rahmen eine Geothermieprojekts

Das unabsichtliche Anbohren eines Tiefenlagers, d.h. sowohl das Ereignis, dass ein Behälter mit hochradioaktiven Abfällen durchbohrt wird  (direct hit) und ein erhöhter Grundwasserfluss entlang der Bohrung erfolgt, wie auch das Ereignis einer Bohrung, welche durch den kontaminierten Bentonit im Umfeld des Behälters führt (near hit) , wurde im Rahmen der Sicherheitsanalyse zum Entsorgungsnachweis betrachtet, ebenso der Fall einer Bohrung durch eine Lagerkammer mit langlebigen mittelaktiven Abfällen (Kap. 7.6 in Nagra 2002 sowie Antwort der Nagra zur Frage 114 („Geothermiebohrung ins Geologische Tiefenlager“) des Technischen Forums Sicherheit). Es konnte gezeigt werden, dass die Dosen für die betroffene Bevölkerung immer noch deutlich unter dem gesetzlichen Schutzziel liegen. Im Rahmen einer Fachsitzung des Technischen Forums  (25. Sitzung vom 02.06.2015) wurden zusätzliche Rechnungen präsentiert, in welcher ein Tiefenlager bereits nach 1000 Jahren angebohrt wird (diese Dosen waren nicht wesentlich höher als im Falls des Anbohrens nach 100’000 Jahren). Solche Szenarien werden auch in anderen nationalen Tiefenlagerprogrammen analysiert.

Ergänzungen aufgrund der Rückmeldung des Fragestellers

Thema ‚Laufende Erweiterung des Tiefenbereichs von Geothermie-Bohrungen‘

Die Nagra ist sich voll bewusst, dass der Tiefenbereich von Erdwärmesonden kontinuierlich erweitert wird. Deshalb werden im Dossier Nutzungskonflikte in NTB 14-02 folgende Massnahmen erläutert: Damit ein Tiefenlager langfristig vor menschlichem Eindringen bestmöglich geschützt bleibt, sind verschiedene Massnahmen erforderlich. Dazu gehören eine geeignete Lagerauslegung (Gliederung in Kompartimente), ein raumplanerischer Schutzbereich, eine Markierung (vgl. Art. 40 KEG) sowie die Archivierung und Dokumentierung aller relevanten Informationen zu einem geologischen Tiefenlager (vgl. Art. 38 KEG 2013 und Richt­li­nie ENSI-G03).

Bei keinem Tiefenlager der Welt kann mit 100%-iger Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es nicht in Vergessenheit gerät und es, wenn auch unbeabsichtigt, zu einem menschlichen Eindringen mittels Bohrungen kommt. Deshalb wurde in der Sicherheitsanalyse zum Entsorgungsnachweis auch dieser Fall quantitativ analysiert, mit ‚direct hit‘ und ’near-hit‘ Szenarien betreffend HAA-Behälter (nach 100’000 Jahren, d.h. nach einer weitgehenden Korrosion des Stahlbehälters) und LMA-Lagerkammern (nach 500 Jahren, Nagra NTB 02-05, Kap. 7.6.2). Später wurden noch ergänzende Rechnungen mit einem früheren Anbohren des HAA-Lagers bereits nach 1000 Jahren durchgeführt. Alle Dosisberechnungen ergaben, dass die betroffene Bevölkerungsgruppe auch bei einem solchen Ereignis zu keiner Zeit einer unzulässigen Strahlenbelastung ausgesetzt sein würde (vgl. auch Antwort der Nagra zu Frage 124).

Der Aspekt des (unbeabsichtigten) menschlichen Eindringens wird gegenwärtig auch im Rahmen eines IAEA Projekts behandelt (Projekt HIDRA: Human Intrusion in Disposal of Radioactive Waste), an welchem alle führenden Nationen mit Programmen zur geologischen Tiefenlagerung beteiligt sind, sowohl mit Repräsentanten der Entsorgungspflichtigen wie auch mit Vertretern der Aufsichtsbehörden.

Im Dossier Nutzungskonflikte von NTB 14-02 wird zudem festgehalten, dass petrothermale Systeme mit Bohrungen in Tiefen von mehreren Kilometern Tiefe bereits heute praktisch überall errichtet werden können. Das zur Zeit am weitesten fortgeschrittene Projekt, Haute Sorne im Kanton Jura, liegt weit ausserhalb von Wärmeflussanomalien, ebenso das andere in Planung stehende Projekt Etzwilen. Dies deutet darauf hin, dass der Wärmefluss bei der
Planung solcher Bohrungen eine sekundäre Rolle spielt.

Thema ‚Abgrenzungskriterien Wärmefluss / geothermische Gradienten‘

Der  Fragesteller  beharrt  offensichtlich  auf  ‚klaren  Kriterien  zum  akzeptablen  Wärmefluss und/oder geothermischen Gradienten. Er geht nicht auf die Vorbehalte der Nagra gegen diese Forderung  ein  (s.  Kap.  Wärmeflusskarten  als  Grundlage  für  die  Abgrenzung  von Standortgebieten bzw. Lagerperimetern? in der Antwort der Nagra ein.

Unabhängig von einer potenziellen Anwendung des Wärmeflusses als Ausschlusskriterium unterstützt die Nagra ein neues Projekt der ETH Zürich (Prof. Martin Saar, Forschungsgruppe Geothermie  und  Geofluide)  zur  Erarbeitung  eines  neuen  Wärmeflussmodells,  in  welchem zwischen  konduktivem  und  advektivem  Wärmetransport  unterschieden  wird.  Aufgrund  der bisherigen  Auswertung  der  Temperaturmessungen  in  der  Nordschweiz  kann  nicht unterschieden werden, ob die erhöhten Werte auf eine Zuströmung von heissen Wässern aus grösserer Tiefe entlang von Störungen, und damit auf ein lokales Phänomen, oder eine relativ untiefe, seitliche Zuströmung von Wässern mit erhöhter Temperatur  (z.B. im Muschelkalk-Aquifer)  und  damit  auf  ein  grossräumigeres  Phänomen,  zurückzuführen  sind.  Die gegenwärtige Bohrungsdichte ist für solche Aussagen nicht genügend.

Thema ‚Muschelkalk-Aquifer, Reservoirs in Delta-Formationen im Perm‘

Die am Swiss Geoscience Meeting 2015 von der Universität Bern (Aschwanden et al., 2015) präsentierten  Ergebnisse  von  Untersuchungen  im  Muschelkalk-Aquifer  zeigen  die  starke Abnahme  der  Permeabilität  des  ungestörten  Muschelkalks  mit  der  Tiefe,  d.h.  dass  nur  in
gestörten Bereichen eine Chance auf eine erhöhte geothermische Produktivität besteht. Eine Beeinträchtigung  eines  Tiefenlagers  im  Opalinuston  aufgrund  von  Stimulationen  durch Fracking  oder  Säuerung  ist  aufgrund  der  Überlagerung  des  Muschelkalks  mit Sedimentgesteinen des Keupers und des Lias nicht zu erwarten.

Der Nagra sind bis heute keine porösen Reservoirs im Perm bekannt (z.B. die vom Fragesteller erwähnten  Delta-Ablagerungen)  und  aufgrund  der  sedimentologischen  und  diagenetischen Gegebenheiten werden auch keine derartigen Reservoirs erwartet (vgl. die Diskussionen im Zusammenhang mit konventionellen Gasvorkommen in der Antwort zu TFS-Frage 125). Es ist der Nagra  auch  nicht  bekannt,  dass  permische  Delta-Ablagerungen  ein  Explorationsziel  in schweizerischen Geothermieprojekten darstellen. Die Forschungsgruppe von Prof. Saar an der ETH Zürich hat im Nordaargau ein Magnetotellurik-Messprogramm initiiert (Hauptziel ist eine genauere Abbildung der Permokarbontröge und potenziell durchlässiger Randzonen bzw. des  verwitterten  oberen  Kristallins).  Die  Methode  wird  seit  neuem  in  verschiedenen Geothermieprojekten  zur  Exploration  potenzieller  Reservoirs  benutzt.  Falls  grössere Reservoirs im Perm vorhanden wären, sollten sie mit solchen Methoden erkennbar sein.

Zusammenfassung und Ausblick

Im Sachplan Geologische Tiefenlager sind Nutzungskonflikte eines der 13 Kriterien (Kriterium 2.4). Das bedeutet, dass es in jeder Phase aufgrund der neuesten Erkenntnisse und Befunde neu  beurteilt  und  die  Konsequenzen  von  allen  Akteuren  im  Sachplan  neu  beurteilt  und abgewogen werden müssen. Aus Sicht der Nagra gibt es aufgrund der heutigen Kenntnisse keine Gründe für einen Ausschluss oder eine Beschneidung der in Etappe 2 vorgeschlagenen Standortgebiete bzw. die verwendeten Lagerperimeter.

Referenzen

BFE (2011): Sachplan geologische Tiefenlager – Ergebnisbericht zu Etappe 1: Festlegungen und Objektblätter. Bundesamt für Energie BFE, Bern.

Diehl, T., Kraft, T., Kissling, E., Deichmann, N., Clinton, J. & Wiemer, S. (2014): High-precision relocation of induced seismicity in the geothermal system below St. Gallen (Switzerland). Poster General Assembly European Geoscience Union, Vienna,

Edwards, B., Kraft, T., Cauzzi, C., Kaestli, P. & Wiemer, S. (2015) Seismic monitoring and analysis of deep geothermal projects in St Gallen and Basel, Switzerland. Geophys J Int 201:1020–1037. doi: 10.1093/gji/ggv059.

Nagra (2002): Project Opalinus Clay – Safety Report – Demonstration of disposal feasibility for spent fuel, vitrified high-level waste and long-lived intermediate level waste (Entsorgungsnachweis). Nagra Tech. Rep. NTB 02-05, Nagra, Wettingen, Switzerland.

Nagra (2014a): SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die Oberflächenanlage: Sicherheitstechnischer Bericht zu SGT Etappe 2: Sicherheitstechnischer Vergleich und Vorschlag der in Etappe 3 weiter zu untersuchenden geologischen Standortgebiete. Nagra Tech. Ber. NTB 14-01.

Nagra (2014b): SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die Oberflächenanlage. Geologische Grundlagen. Nagra Tech. Ber. NTB 14-02.

Schnellmann, M. & Albert, W. (2012): Schutzzonen für Bohrungen in Standortgebieten für geologische Tiefenlager in der Nordschweiz. Nagra Arbeitsber. NAB 12-02 Rev.