d)
Die Grundlage des staatlichen Handelns ist das Recht. Die Behörden sind bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten dazu verpflichtet, sich an die geltenden gesetzlichen Regelungen zu halten. Es bestehen ausreichende Mechanismen, mit denen bei Bedarf die gesetzlichen Regelungen an aktuelle Bedürfnisse oder Erkenntnisse angepasst werden können.
Vorbemerkungen:
Gesetzliche Grundlagen für den langfristigen Schutz vor ionisierender Strahlung durch Kernanlagen – einschliesslich der Strahlung im Niedrigdosisbereich – befinden sich in der Kernenergiegesetzgebung (u. a. Kernenergiegesetz, Kernenergieverordnung) sowie in der Strahlenschutzgesetzgebung (Strahlenschutzgesetz, Strahlenschutzverordnung). Diese wurden mit dem Ziel erlassen, die Bevölkerung vor Gefährdungen durch künstliche und natürliche ionisierende Strahlung zu schützen. Dabei wurden unter anderem auch die zulässigen Grenz- und Richtwerte für Strahlenexpositionen für verschiedene Situationen und Zielgruppen festgelegt.
Das BFE beantwortet die Frage 164 d) entsprechend seiner Zuständigkeit aus formaler Sicht. Eine Beurteilung, ob überhaupt relevante wissenschaftliche Erkenntnisse im Gebiet der ionisierenden Strahlung im Niedrigdosisbereich vorliegen, oder wie die zuständigen Fachstellen den Stand der Wissenschaft unter diesem Gesichtspunkt verfolgen, ist nicht Gegenstand der Antwort. Dazu wird auf die Beantwortung der Teilfragen a) bis c) und e) sowie der TFS-Fragen 152 und 165 bis 168 durch andere Organisationen verwiesen.
«In der Zwischenzeit sind betreffend den langfristigen Schutz vor Niedrigstrahlung neue wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. neue unbeantwortete wissenschaftliche Fragen aufgetaucht. Ist es deshalb immer noch hinreichend, damit zu argumentieren, dass die Gesetze erfüllt seien?»
In der Bundesverfassung ist das Legalitätsprinzip verankert: Das staatliche Handeln muss gesetzmässig sein (Art. 5 Abs. 1 der Bundesverfassung). Einklagbare und staatlich durchsetzbare Rechte und Pflichten werden demzufolge auch für die Betreiberin einer Kernanlage ausschliesslich gestützt auf das Gesetz festgelegt. Somit müssen sich namentlich auch Bewilligungsauflagen im Rahmen des Gesetzes bewegen. Dies bedeutet, dass von der Betreiberin eines geologischen Tiefenlagers für den langfristigen Schutz vor Niedrigstrahlung auch nicht mehr verlangt werden kann, als das aktuelle Gesetz verlangt. Falls nun jemand der Ansicht sein sollte, dass die aktuellen gesetzlichen Grundlagen für den langfristigen Schutz vor Strahlung im Niedrigdosisbereich ungenügend seien, so könnte in einem Rechtsstaat die Verpflichtung zur Erhöhung des Schutzes vor Niedrigstrahlung nur per Anpassung der entsprechenden Gesetzgebung erwirkt werden (siehe weiter unten).
Die bestehenden zentralen Vorschriften in Zusammenhang mit der Beurteilung der Sicherheit von Kernanlagen sind jedoch so formuliert, dass sie stets die Berücksichtigung des aktuellen internationalen Standes von Wissenschaft und Technik verlangen (vgl. beispielsweise Art. 4 Abs. 3 Bst. a des Kernenergiegesetzes oder Art. 36 der Kernenergieverordnung). Eine Kernanlage wird bezüglich ihrer Sicherheit nicht nur einmal zum Zeitpunkt des Bewilligungsverfahrens beurteilt; vielmehr handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess, bei dem die Kernanlage durch den Betreiber regelmässig überprüft und nachgerüstet werden muss. Dieser Prozess wird vom ENSI überwacht. Wie das ENSI neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik in seine Aufsichtstätigkeit einfliessen lässt, ist in der Antwort auf die TFS-Frage 155 beschrieben.
Selbstverständlich steht es überdies der Projektantin eines geologischen Tiefenlagers frei, bei den Planungen eine grössere Sicherheitsmarge vorzusehen, als dies vorgegeben ist, um den Schutz vor ionisierender Strahlung, einschliesslich Niedrigstrahlung, weiter zu verstärken und die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben sicherzustellen.
«Wie soll der Gesetzgeber neue Erkenntnisse bzw. unbeantwortete Fragen bei der Anwendung der Gesetze berücksichtigen?»
Grundsätzlich sind sämtliche rechtlichen Vorgaben abänderbar. Falls neue wissenschaftliche Erkenntnisse den Schluss zulassen, dass gewisse rechtlichen Vorgaben abzuändern sind, kann das zuständige Fachamt – für den Strahlenschutz ist dies das Bundesamt für Gesundheit (BAG) – eine Änderung der Vorgaben von sich aus initiieren. Auch durch die Allgemeinheit oder politische Instanzen kann eine Änderung mit einer Vielzahl von politischen Instrumenten erwirkt werden (unter anderem Volks‑/Standesinitiative, Motion, parlamentarische Initiative, Initiativrecht des Bundesrats). Die Sinnhaftigkeit einer solchen allfälligen Änderung im Bereich der Niedrigstrahlung müsste im Hinblick auf die technische Umsetzbarkeit und die gesellschaftliche und politische Akzeptanz von möglichen Auswirkungen auf ein Tiefenlagerprojekt dannzumal situationsspezifisch abgewogen werden.
Es entspricht der allgemeinen Praxis der Gesetzgebung, dass Gesetzeserlasse bei festgestelltem Bedarf angepasst werden. Im technischen Bereich sind die einzuhaltenden Grundsätze und Prinzipien oft auf der Stufe des Gesetzes festgelegt, währenddem die dafür anzuwendenden Detaillierungen, einschliesslich Kriterien, Richt‑ und Grenzwerte, auf der untergeordneten Stufe der Verordnungen festgehalten sind. Somit ist häufig eine vergleichsweise einfache und rasche Anpassung der Ausführungsbestimmungen an die aktuellen Erfordernisse auf Stufe der Verordnung möglich, während die grundlegenden Bestimmungen des Gesetzes weiterhin ihren Bestand behalten.
«Ist es vorstellbar, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Gesetzesanpassungen führen, welche die Realisierung eines Tiefenlagers verunmöglichen?»
Der Schutz von Mensch und Umwelt vor ionisierender Strahlung ist ein zentraler Grundsatz der Strahlenschutz‑ und Kernenergiegesetzgebung (Art. 1 des Strahlenschutzgesetzes, Art. 4 des Kernenergiegesetzes). Wie oben dargestellt, können neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu führen, dass Gesetze oder Verordnungen anzupassen sind. Eine solche Änderung könnte – je nach ihrer Strenge und dem bereits bestehenden Projektstand eines geologischen Tiefenlagers – unterschiedliche Auswirkungen auf die weitere Realisierbarkeit eines Tiefenlagers haben. Vorausgesetzt, dass es ausschlaggebende neue wissenschaftliche Erkenntnisse im Bereich der Strahlung im Niedrigdosisbereich gäbe, könnte dies allenfalls auch dazu führen, dass die Realisierung eines geologischen Tiefenlagers in Frage gestellt würde.
Referenzen
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