a), b) und c)
Die Frage, zu welchem Ausmass ionisierende Strahlung Keimzellen oder auch somatische Mutationen beim Menschen verursachen kann, wird auf verschiedenen Ebenen (molekular- und zellbiologisch, epidemiologisch, politisch etc.) immer wieder diskutiert und unterschiedliche Publikationen werden von verschiedenen Interessenverbänden jeweils zitiert (Bsp. Belli et al. 2020, Radiobiology for the Radiobiologist). Generell kann nicht angezweifelt werden, dass ionisierende Strahlung zu Mutationen im Erbgut von Zellen führen kann. Zusätzliche Mutationen in somatischen Zellen erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Krebsinzidenz der Person, welche mit Strahlung in Berührung kam. Daher sind die strahleninduzierten Mutationen von Bedeutung, welche zusätzlich zur Untergrund-Mutationsrate (z.B. durch Replikationsfehler, welche zu mehr als 50 % kausal zur Karzinogenese beitragen (Tomasetti et al. 2017)) in somatischen Zellen und Keimzellen hinzukommen.
Die Fragestellenden beziehen sich in dieser Frage auf eine Publikation von Scherb et al. (2011), die eine kleine Veränderung der Geschlechterverteilung im Umfeld von nuklearen Anlagen beschreiben. Zu dieser Studie wurde von der Eidgenössischen Kommission für Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität (KSR) eine Stellungnahme verfasst (KSR 2011). In dieser werden verschiedenste Gründe aufgeführt, weshalb diese Studie und die entsprechenden Schlussfolgerungen als nicht überzeugend eingeschätzt werden. Auch die Strahlenschutzkommission aus Deutschland (SSK) hat 2014 eine Stellungnahme veröffentlicht über «Einflussfaktoren auf das Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen unter besonderer Beachtung der Wirkung ionisierender Strahlung» und schlussfolgert, dass es bisher keine überzeugende konsistente wissenschaftliche Evidenz für die bislang betrachteten möglichen Einflussfaktoren, wie endogene und exogene Faktoren, gibt (SSK 2014). Dies gilt insbesondere auch für ionisierende Strahlung.
Nach aktuellem Wissensstand wäre es daher vermessen einen Zusammenhang der beobachteten Veränderung der Geschlechterverteilung, um die nuklearen Anlagen mit Keimzellen-Mutationen herzustellen.
Eine experimentelle Beweisführung im Sinne eines Umkehrbeweises kann im Bereich «Auswirkungen der Niedrigdosis für die Humanpopulation» nicht erbracht werden. Gleichzeitig muss aber auch eine Beobachtung stringenten Anforderungen einer wissenschaftlichen Analyse standhalten und kann entsprechend durch weitere Datensätze, welche mit den gleichen stringenten Anforderungen analysiert wurden, in Frage gestellt werden. Insofern zweifelt die KSR die Beobachtung von Scherb et al. (2011) per se nicht an, steht jedoch kritisch deren Analyse und Schlussfolgerungen gegenüber und fordert weitergehende Forschungsarbeiten, welche ein besseres Verständnis für die Rolle von zusätzlichen Mutationen im Niedrigdosisbereich von ionisierender Strahlung liefern.
Der aufgestellten Vermutung, dass die Befunde zum Thema Verschiebung des Geschlechterverhältnis durch ionisierende Strahlung von offizieller Seite negiert werden und keine entsprechende Diskussion auf nationaler und internationaler Ebene stattfindet, muss widersprochen werden. Die verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen (UNSCEAR, ICRP, BAG etc.) beteiligen sich an internationalen Forschungsprojekten zur Thematik der strahleninduzierten Mutationsraten in somatischen Zellen und Keimzellen und initiieren neue Forschungsprojekte, welche mechanistische Erkenntnisse liefern sollen, die zum Verständnis der Wirkweise von Niedrigdosisstrahlung und der entsprechenden Konsequenzen beitragen (z. B.: Shore et.al. 2019).
d)
Die Überlegungen des ENSI dazu sind im Erläuterungsbericht zur Richtlinie ENSI-G03 «Geologische Tiefenlager» festgehalten: «Die Entsorgung von radioaktiven Abfällen hat gemäss Art. 31 KEG in einem geologischen Tiefenlager zu erfolgen. Dadurch werden die radioaktiven Abfälle vom Lebensraum des Menschen isoliert. Die Langzeitsicherheit des geologischen Tiefenlagers ist dabei durch ein System gestaffelter, passiv wirkender technischer und natürlicher Barrieren (Mehrfachbarrierensystem, Art. 11 Abs. 2 Bst. b KEV) zu gewährleisten.
Ein absoluter Einschluss aller radioaktiven Stoffe über sehr lange Zeiträume ist nicht möglich. Das Barrierensystem ist deshalb so auszulegen, dass die Freisetzung von Radionukliden durch die technischen und natürlichen Barrieren hindurch bis in die Biosphäre gering bleibt und der Schutz von Mensch und Umwelt gewährleistet ist. Dies kann durch den Einschluss der radioaktiven Abfälle über eine gewisse Zeit, durch die verzögerte Freisetzung der radioaktiven Stoffe aus der Abfallmatrix und durch die Rückhaltung der radioaktiven Stoffe in den technischen und natürlichen Barrieren erfolgen.
Das Schutzziel steht im Einklang mit Art. 4 KEG und dem grundlegenden Schutzziel gemäss den Fundamental Safety Principles der IAEA (2006). Für die Betriebsphase gelten die grundlegenden Schutzziele in Art. 1 Bst. d der Verordnung des UVEK über die Gefährdungsannahmen und die Bewertung des Schutzes gegen Störfälle in Kernanlagen vom 17. Juni 2009 (SR 732.112.2).
Ethische Überlegungen (vgl. Susanne Brauer: Schutzziele als ethische Fragen, Bericht im Auftrag des Bundesamtes für Energie, 2018) begründen eine Schutzverpflichtung gegenüber künftigen Generationen. Der Grundsatz folgt dabei dem Prinzip, dass jede Generation heute oder in der Zukunft den gleichen Anspruch auf Schutz vor einer Gefährdung durch ionisierende Strahlung hat. Über die weit entfernte Zukunft der Menschheit sind keine verlässlichen Aussagen möglich. Das gilt insbesondere für die Lebensweise, die Nahrung und die Empfindlichkeit des Menschen gegenüber der Umgebungsstrahlung. Bei dieser prinzipiellen Unkenntnis der Empfindlichkeit der zukünftig zu schützenden Menschen kann gleicher Schutz nur dadurch umgesetzt werden, dass die Einschlusswirksamkeit eines geologischen Tiefenlagers heute und in Zukunft gleichen Ansprüchen zu genügen hat. Der Massstab für diese Ansprüche sind die heute geltenden Schutzansprüche.»
e)
Aus radioepidemiologischen Studien ist, je nach betrachtetem Dosisintervall, ein starker Zusammenhang zwischen Strahlenexposition und einem späteren Krebsverlauf (z. B. Leukämie, Schilddrüsenkrebs, Brustkrebs und Lungenkrebs) erkennbar. Die Hinweise für einen Zusammenhang zwischen Strahlenexposition und einem späteren Nicht-Krebs-Ergebnis häufen sich (z. B. für das erwähnte Parkinson-Risiko pro Einheitsdosis, von welchem in der Mayak-Studie berichtet wird) – allerdings sind die Ergebnisse in der Literatur für den Dosisbereich von 0 bis unter 0,5 Gy insgesamt oft widersprüchlich und die veröffentlichten Studien berichten von großen Schwankungen bei den Risikoniveaus pro Dosiseinheit. In Strahlentherapiestudien wurde ein Zusammenhang von kardiovaskulären Wirkungen mit hohen Organdosen über 1 Gy festgestellt. Studien mit niedrigerer Dosis zeigen jedoch einen schwachen oder gar widersprüchlichen Zusammenhang zwischen Strahlung und kardiovaskulären Ergebnissen. Angesichts der großen Bandbreite verfügbarer Risikoschätzungen für kardiovaskuläre Folgen aufgrund von ionisierender Strahlung ist angezeigt, die derzeit laufenden Bewertungen der ICRP und von UNSCEAR abzuwarten, bevor endgültige Schlussfolgerungen gezogen werden. Strahlungswirkungen für ZNS-Wirkungen, Wirkungen auf das Immunsystem, Wirkungen auf die Atemwege, endokrine Wirkungen und Augentrübung bei Dosen unter etwa 0,5 Gy werden aktuell nicht eindeutig durch verfügbare wissenschaftliche Studien für einen kausalen Zusammenhang gestützt. Weitere Informationen zur Erforschung des Strahlenrisikos im Niedrigdosisbereich können auf der Multidisciplinary European Low Dose Initiative (MELODI) Plattform gefunden werden.
In der Schweiz werden Personen, die Funktionen gemäss VAPK und VBWK einnehmen, jährlich durch einen Facharzt oder Fachärztin der Arbeitsmedizin untersucht (Art. 24 VAPK, Art. 17 VBWK). Gewisse Kernanlagen ermöglichen diese Untersuchung auch für grössere Personengruppen bzw. für das ganze Personal auf freiwilliger Basis. Eine Auswertung oder Weiterverfolgung der Gesundheit nach einem Stellenwechsel bzw. nach der Pensionierung gibt es nicht. Das BAG führt aber gemäss Art. 72 der Strahlenschutzverordnung ein zentrales Dosisregister. Das Register hat zum Zweck, die während der gesamten Tätigkeit als beruflich strahlenexponierte Person ermittelte Dosis zu registrieren, um auf dieser Grundlage mögliche Versicherungsansprüche abzuklären. Ausserdem ermöglicht das Register den Aufsichtsbehörden eine jederzeitige Kontrolle der pro Überwachungsintervall akkumulierten Dosen jeder beruflich strahlenexponierten Person in der Schweiz, statistische Aussagen und die Evaluation der Wirksamkeit der Bestimmungen der Strahlenschutzverordnung und die Sicherstellung der Aufbewahrung der Daten.
Verschiedene Massnahmen und Konzepte sind aufgrund von Ergebnissen aus wissenschaftlichen Studien in internationale Empfehlungen und somit in das System des Strahlenschutzes aufgenommen worden. Darunter fallen zum Beispiel die Relative Biologische Wirksamkeit (RBW), Linear Energy Transfers (LET) oder der Dose and Dose Rate Effectiveness Factor (DDREF).
Es gibt diverse epidemiologische Studien, die den Zusammenhang mit dem Fallout der nuklearen Tests und einer Zunahme der genannten Krankheiten beschreiben. Die gesundheitlichen Auswirkungen durch eine Exposition ionisierender Strahlung bei einem radioaktiven Fallout können für Schilddrüsenkrebs oder Leukämie, zwei der radiogenesten bösartigen Erkrankungen, grösstenteils als geringfügige Überschreitungen der Grundrate beschrieben werden (Gilbert et al. 2002). Exzessive Schilddrüsenkrebsrisiken durch einen Fallout wurden nur in Bevölkerungsgruppen, die hohen Dosen ionisierender Strahlung exponiert waren, klar nachgewiesen (Conard et al. (1970)). Weitere Studien zu den Gesundheitsrisiken durch Atomwaffentests wurden in den USA und in mehreren anderen Ländern durchgeführt, darunter die Marshallinseln, Kasachstan, Französisch-Polynesien und die nordischen Länder (Stevens et al. (1990), Keber et al. (1993), Gilbert et al. (2010), Conard et al. (1970), Land et al. (2015), deVathaire et al. (2010), Darby et al. (1992))
Referenzen
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Conard, R.A., Dobyns, B. M., Sutow, W.W. (1970): Thyroid Neoplasia as Late Effect of Exposure to Radioactive Iodine in Fallout. JAMA 1970;214(2):316-324. https://doi.org/10.1001/jama.1970.03180020036007
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de Vathaire, F., Drozdovitch, V., Brindel, P. et al. (2010): Thyroid cancer following nuclear tests in French Polynesia. Br J Cancer 103:1115–1121 (2010). https://doi.org/10.1038/sj.bjc.6605862
ENSI-G03: Geologische Tiefenlager, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Brugg, Dezember 2020.
Erläuterungsbericht zur Richtlinie ENSI-G03: Geologische Tiefenlager, Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat, Brugg, Dezember 2020.
Gilbert, E. S., Land, C. E., Simon, S. L. (2002): Health effects from fallout. Health Physics 82(5):726-735, May 2002. https://doi.org/10.1097/00004032-200205000-00017
Gilbert, E. S. et. al. (2010): Thyroid Cancer Rates and 131I Doses from Nevada Atmospheric Nuclear Bomb Tests: An Update. Radiation Research 173(5):659-664 (9 March 2010). https://doi.org/10.1667/RR2057.1
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