Reaktoren in Frankreich, Spannungsrisskorrosion
Sachverhalt: Vorkommnisse in Frankreich
Seit Ende des letzten Jahres häufen sich die Meldungen über vermutete oder tatsächlich schon festgestellte Spannungsrisskorrosionen an den Sicherheits-Einspeise- und Nachkühlsystemen bei französischen Reaktoren. Mittlerweile wurden 12 Reaktoren deswegen ausser Betrieb genommen (EDF: Point d’actualité sur le phénomène de corrosion sous contrainte et ajustement de l’estimation de production nucléaire en France pour 2022 https://www.edf.fr/groupe-edf/espaces-dedies/journalistes/tous-les-communiques-de-presse/point-actualite-nucleaire-du-18-mai-2022).
Gemäss deutscher Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) besteht diese Sicherheitsrelevanz (Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS): Sicherheitsrelevante Schäden im Sicherheits-Einspeisesystem französischer Kernkraftwerke (Stand: 03.08.) https://www.grs.de/de/aktuelles/sicherheitsrelevante-schaeden-im-sicherheits-einspeisesystem-franzoesischer):
Wenn die Risse im fortlaufenden Betrieb eine bestimmte Größe erreichen, kann es – insbesondere bei einer zusätzlichen mechanischen Belastung – zu einem Leck oder Bruch einer der betroffenen Leitungen kommen. Da zwischen dem Ort der Rissbefunde und dem Primärkreislauf eine direkte Verbindung besteht, käme es dann zu einem Kühlmittelverluststörfall.
Es sind Szenarien denkbar, bei denen mechanische Belastungen gleichzeitig auf alle betroffenen Leitungen des Sicherheits-Einspeisesystems wirken, z. B. im Fall eines schwereren Erdbebens. Käme es in einem solchen Fall zum gleichzeitigen Abriss mehrerer dieser Leitungen, wären Kernschäden bis hin zu einer Kernschmelze nur zu verhindern, wenn weitere Notfallmaßnahmen zur Reaktorkühlung erfolgreich umgesetzt werden könnten.
Die französische IRSN ist noch etwas spezifischer (Bild und Text, IRSN: Detection of cracks in pipes of the emergency core cooling system of the reactors No. 1 and No. 2 of the Civaux nuclear power plant https://www.irsn.fr/EN/newsroom/News/Pages/20211216-Detection-of-cracks-in-pipes-of-the-emergency-core-cooling-system-of-reactors-of-the-Civaux-nuclear-power-plant.aspx)
If these faults develop in the emergency core cooling system piping, it could lead to a leak or a break. If this break occurs on a pipe, this leads to a loss of coolant accident, the damaged elbows being located downstream of the isolation valves of the emergency core cooling system. The emergency core cooling system train unaffected by the breach would then ensure the injection of water into the primary circuit and the cooling of the core. If, on the other hand, this rupture or leak occurs simultaneously on several pipes, the cooling of the reactor core could potentially no longer be ensured. Events such as an earthquake (generating mechanical stresses in the involved pipes) or start-up of the emergency core cooling system (causing cold water to enter hot pipes) can simultaneously stress these circuits.
Der Vorgang ist insbesondere darum bemerkenswert, als dass die Befunde an zwei ganz unterschiedlichen Sicherheitssystemen und auch bei mehreren Reaktorgenerationen (N4 und P’4, in geringerem Mass auch P4 und 900MW Reaktoren) festgestellt wurden, nachdem entsprechende Untersuchungen ausgeweitet wurden. Die grosse Anzahl unplanmässiger Ausserbetriebnahmen zeigt, dass die französische Betreiberin überrascht wurde. Es stellen sich Fragen, wie lange schon die Spannungsrisskorrosion unentdeckt fortgeschritten sind bzw. ob die Prüfdichte, -methoden und -intervalle adäquat sind.
Die französische Aufsichtsbehörde ASN ist denn auch der Ansicht, dass sich die Wissenslage über das Phänomen der Spannungsrisskorrosion noch in Entwicklung befindet, und dass das Kontrollprogramm angepasst werden muss, wenn die Überprüfungen oder Analysen neue Elemente ans Licht führen (Phénomène de corrosion sous contrainte affectant les réacteurs électronucléaires, 27.7.2022 https://www.asn.fr/l-asn-informe/actualites/corrosion-sous-contrainte-l-asn-considere-que-la-strategie-de-controle-d-edf-est-appropriee):
L’ASN considère que les connaissances sur le phénomène de CSC sont encore évolutives et que le programme de contrôle devra être adapté si les contrôles ou analyses mettent en évidence des éléments nouveaux.
Hier stellt sich wiederum die Frage, ob es nicht umgekehrt sein müsste, dass das Kontrollprogramm vorsorglich ausgeweitet werden muss, bis sich die Wissenslage auf einem belastbaren Niveau stabilisiert hat.
Fragen an das ENSI
- A. Welche Untersuchungen und Massnahmen hat das ENSI auf Grund der Ereignisse eingeleitet?
- B. Haben die Betreiber spontan reagiert (siehe auch Frage N), oder hat das ENSI die Initiative ergriffen?
- C. Gibt es bei Schweizer Anlagen ähnliche Konstruktionen? Angesichts der Verschiedenheit der betroffenen Leitungen und Reaktorgenerationen, welche Abgrenzungen nimmt das ENSI dabei vor?
- D. Ist eine Überprüfung vergleichbarer Qualität, wie sie nun in Frankreich Befunde erbracht hat, gewährleistet?
- E. Falls ja, wie häufig wird diese durchgeführt? Wann wurde sie zuletzt durchgeführt (pro AKW)?
- F. Sind dem ENSI die Gründe bekannt, weshalb die Befunde so überraschend kamen? Sind solche Überraschungen in der Schweiz ausgeschlossen?
- G. Welche Haltung hat das ENSI zur Wissenslage über das Phänomen der Spannungsrisskorrosion?
- H. Wie geht man generell mit Wissenslagen um, die sich als noch «in Entwicklung befindlich» («évolutives») erweisen? Muss hier nicht vorsorglich die Überprüfungsdichte (zeitlich und örtlich) deutlich ausgeweitet werden? Oder gilt bis zum Beweis eines konkreten Problems das «Prinzip Hoffnung»?
- I. Wurden aufgrund der Ereignisse neue Abklärungen/Forschungen aufgegleist?
- J. Fliessen die Erkenntnisse aus diesen Ereignissen in die Revisionen von Richtlinien zur Überprüfung des IST-Zustandes der Anlage ein? (Gemeint sind Revisionen von Richtlinien, welche das ENSI im Zusammenhang mit Frage 44 (Schockabsorber Beznau Notstromdiesel) in Aussicht gestellt hat.)
- K. Die Spannungsrisskorrosionen können einen Störfall sowohl selbst auslösen (spontaner Bruch), als auch bei der Beherrschung eines anderen Störfalles als latente Fehler auftreten, wodurch dann die geplante Störfallbeherrschung bzw. das Sicherheitssystem nicht verfügbar ist, bzw. zusätzlich zum eigentlichen Störfall noch ein Kühlmittelverluststörfall (LOCA) vorliegt. Letzteres etwa wie die GRS ausführt im Erdbebenfall oder weil (wie die IRSN im Zitat erwähnt) erst im Anforderungsfall kaltes Wasser in die Leitung schiesst (thermischer Schock). Es werden dann wohl auch deutlich erhöhte mechanische Belastungen auftreten, allein schon durch die Fliehkraft des Wassers in den betroffenen Rohrbeugen, Wasserhammer (https://de.wikipedia.org/wiki/Drucksto%C3%9F) usw. Wie sind solche dualen Fehlerpfade sicherheitstechnisch zu bewerten?
- L. Ist es gemäss diesen Überlegungen richtig, dass an Leitungen, die unter Störfallbedingungen stärker als im Normalbetrieb belastet werden, Leck-vor-Bruch Nachweise unzulässig sind?
- M. In früheren Nachweisdokumenten finden sich noch folgende Aussagen des ENSI, wo die Sicherheit gleichsam «per Dekret» und unabhängig von realitätsbezogenen Sicherheitsüberlegungen «festgestellt» wurde: Bei einem SSE [Anm. Erdbeben-Auslegungsstörfall] muss nicht gleichzeitig mit einem Kühlmittelverluststörfall gerechnet werden. Somit bleibt der Reaktorkühlkreislauf intakt, und der Einschluss der radioaktiven Stoffe ist gewährleistet. In der Schweiz wird die Ereigniskombination „SSE + LOCA“ als Auslegungsstörfall nicht verlangt. Wie steht das ENSI heute (und angesichts der vorliegend dokumentierten postulierten Versagenskaskaden) zu diesen Aussagen? (KKW Beznau II: Gutachten zum Gesuch der NOK um Aufhebung der Befristung der Betriebsbewilligung, 2004, Seite 7-27 ENSI: Sicherheitstechnische Stellungnahme zur Periodischen Sicherheitsüberprüfung des KKM, 2007, Seite 6-1)
Fragen an die Schweizer Betreiberinnen (einzeln)
- N. Gemäss Gesetzgebung (Art. 22 Abs. 2 Bst. h KEG.) sind die Betreiber (und nicht etwa das ENSI) in der Verantwortung, solche «Betriebserfahrung» auf die eigenen Anlagen zu übertragen und zu untersuchen, ob ähnliches vorliegen könnte. Es interessiert, wie diese anspruchsvolle Verpflichtung erfüllt wird. Welche Massnahmen wurden wann getroffen? Wie organisieren sich die Betreiber national/international?