Artikelserie Tschernobyl: Keine Übertragbarkeit auf Reaktoren in der Schweiz
32 Jahre nach Tschernobyl: Nach dem Unfall überprüfte die damalige Aufsichtsbehörde die Übertragbarkeit auf Schweizer Anlagen. Die HSK konnte aufgrund der ganz anderen Eigenschaften des Reaktors in Tschernobyl ausschliessen, dass Ähnliches in der Schweiz vorkommen kann.
Bild: Reaktorhalle im Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl (Quelle: http://chnpp.gov.ua)
Kurz nach dem Unfall in Tschernobyl überprüfte die damalige Aufsichtsbehörde die Übertragbarkeit des Unfalls auf Schweizer Anlagen. Die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen HSK konnte aufgrund der ganz anderen Eigenschaften des Reaktors in Tschernobyl ausschliessen, dass Ähnliches in der Schweiz vorkommen kann.
Roland Naegelin, damaliger Chef der HSK, betonte in einem Interview mit dem Badener Tagblatt im Juni 1986: „Ein Unfallablauf wie in Tschernobyl ist wegen der verschiedenen Art der Reaktoren nicht möglich.“
Roland Naegelin ist ehemaliger Direktor der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen. Er hat den Unfall von Tschernobyl als Leiter der Aufsichtsbehörde erlebt. Er erklärt in diesem Video, wie die Schweizer Behörden auf den Tschernobyl-Unfall reagiert haben.
Auch das Verhalten des Betriebspersonals, welches die Gefährlichkeit dieses Reaktortyps offenbar unterschätzte und Fahrvorschriften grob verletzte, ist nicht übertragbar. Daher ergaben sich aus dem Unfall mit dem Tschernobyl-Reaktortyp nur wenige Ergänzungen.
Technischer Vergleich
Bei ihrer Prüfung der Übertragbarkeit der Unfallerkenntnisse verglich die HSK den Tschernobyl-Reaktortyp mit den Leichtwasserreaktoren in der Schweiz. Der technische Vergleich mit der Anlage Tschernobyl zeigt folgende Eigenschaften der schweizerischen Kernkraftwerke:
In der Schweiz wird Wasser als Moderator genutzt. Das Abbremsen der Neutronen wird durch das Wasser im Reaktor bewirkt, was im Fachjargon Moderation heisst. Bei der Kernspaltung entstehen Wärme und neue Neutronen. Diese werden aus dem gespaltenen Atomkern rausgeschleudert. Allerdings sind sie noch zu schnell, um weitere Urankerne zu spalten. Deshalb müssen sie auf eine geeignete Geschwindigkeit abgebremst werden, bevor sie ihrerseits weitere Urankerne spalten können.
Der Reaktor von Tschernobyl hatte wegen der Moderation im Graphit die ungünstige Eigenschaft, dass eine Verminderung der Kernkühlung keine Reduktion der Reaktorleistung bewirkt. Bei den in der Schweiz eingesetzten Reaktoren würde mit dem Verlust des Kühlwassers auch die Kettenreaktion einbrechen, sodass die Leistung massiv abnimmt.
Im Gegensatz zum Kernkraftwerk Tschernobyl sind die Schweizer Reaktoren so ausgelegt, dass die Leistung bei einem zu hohen Temperaturanstieg sinkt. Das Verhältnis Wasser-Brennstoff wurde so gewählt, dass bei einem zu hohen Leistungsanstieg die Kettenreaktion reduziert wird, da Neutronen nicht mehr genügend gebremst (moderiert) werden.
Bei Störungen, die eine sofortige Unterbrechung der nuklearen Leistungserzeugung verlangen, werden in den Schweizer Reaktoren Abschaltstäbe in den Kern eingeschossen. Dies erfolgt automatisch innert Sekunden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen weltweit, dass bei Leichtwasserreaktoren die Reaktorabschaltsysteme äusserst zuverlässig funktionieren.
In den Leichtwasserreaktoren wird auch der Fall des Versagens des Reaktorschnellabschaltsystems unterstellt und es steht deshalb ein zweites, von den Steuerstäben unabhängiges und diversitäres Abschaltsystem zur Verfügung, das auf der Einspeisung von Borsäure in den Reaktor basiert. Mit dieser Borsäure kann die Kettenreaktion gebremst oder sogar gestoppt werden, indem sie Neutronen absorbiert.
Ein so schwerwiegendes Fehlverhalten des Reaktorbetriebspersonals, wie es in Tschernobyl vorkam, ist angesichts der in der Schweiz vorhandenen Organisation, Betriebsvorschriften und Ausbildung nicht denkbar. Trotz dieses Unterschieds hat die damalige Aufsichtsbehörde diesbezüglich zusätzliche Massnahmen gefordert.
Um den Einschluss der radioaktiven Stoffe zu gewährleisten, weisen die Kernkraftwerke mehrere hintereinanderliegende Barrieren auf. Es sind dies als erste Barriere die Hüllrohre der Brennelemente, als zweite der Primärkreislauf und schliesslich das Containment als dritte Barriere. Das Containment wirkt als Barriere gegen den Austritt von radioaktiven Stoffen.
Fritz Weehuizen, damaliger Leiter der Sektion Reaktorsicherheit bei der HSK, betonte im Luzerner Tagblatt vom 3. Mai 1986: „Das Pflichtbewusstsein der Betreiber von Kernkraftwerken in der Schweiz ist sehr hoch.“ Die HSK forderte jedoch die Betreiber per Ende Januar 1987 auf, ihre Massnahmen gegen schwere Unfälle zu überprüfen.
Roland Naegelin ist ehemaliger Direktor der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen. Er hat den Unfall von Tschernobyl als Leiter der Aufsichtsbehörde erlebt. Er erläutert in diesem Video, ob der Tschernobyl-Unfall auf Schweizer Kernkraftwerke übertragbar war.
Das ist der siebte von sechzehn Teilen zur Geschichte des Unfalls Tschernobyl.
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