Um die Tragweite und die Komplexität des Ereignisses zu verstehen, wurde im ENSI ein interdisziplinäres Analyseteam gebildet. Dieses umfasst beispielsweise Expertinnen und Experten aus den Bereichen Mensch & Organisation, Strahlenschutz, Elektrotechnik, Maschinentechnik, Werkstofftechnik und Systemtechnik.
Erste vorläufige Erklärungen, warum es zu den Auslegungsmängeln kam und warum der Unfall einen derart katastrophalen Verlauf nahm, legt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI in einem dreiteiligen Bericht dar, der die Umstände vor, während und nach dem Unfall beleuchtet.
Teil 1, „Chronologie der Ereignisse“, finden Sie seit Freitag auf der Website des ENSI. Heute legt das ENSI den 2. Teil vor: „Mensch und Organisation“:
Was auf den ersten Blick ein durch Naturereignisse ausgelöstes technisches Anlagenversagen schien, stellte sich schon sehr bald als ein komplexes Ereignis heraus, in dem menschliche und organisatorische Aspekte eine zentrale Bedeutung einnehmen.
So muss davon ausgegangen werden, dass das Personal vor Ort über weite Strecken keine genaue Kenntnis von der tatsächlichen Situation und dem Zustand der Anlage hatte. Dies führte zumindest zeitweilig zu falschen Einschätzungen der Lage.
Eine erste Fehleinschätzung erfolgte vermutlich bereits wenige Minuten nach dem Erdbeben, nachdem die japanische meteorologische Anstalt eine erste Tsunami-Warnung über eine mindestens drei Meter hohe Welle herausgegeben hatte („major tsunami“).
Aufgrund dieser Warnung, welche das wahre Ausmass des zu erwartenden Tsunamis nicht vorherzusehen erlaubte, sah man sich in Fukushima Dai-ichi vermutlich zu keinen besonderen technischen Vorsorgemassnahmen und wahrscheinlich auch nicht zu besonderer Sorge veranlasst. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich herausstellen sollte.
Die Analyse zeigt: Nicht nur zur Vermeidung, auch für die Beherrschung eines Unfalls spielt der Faktor Mensch eine zentrale Rolle. Die Organisationen von Betreibern und Behörden, in welchen die Menschen arbeiten, müssen den menschlichen Faktoren durch geeignete Strukturen und Abläufe und eine geeignete Sicherheitskultur Rechnung tragen. Und sie müssen in der Lage sein, mit Unerwartetem umzugehen.
Teil 2 des ENSI-Berichts zu Fukushima kann hier heruntergeladen werden: Mensch und Organisation.
Dazu der Kommentar von Rosa Sardella, der Leiterin des Japan-Teams beim ENSI: „Der Mensch trifft die Entscheidungen.“
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